Montag, 19. Oktober 2009

Die Unvoreingenommenheit autopoietischer Systeme

In diesem Beitrag (auch hier) kommt die Buchstabenfolge r-e-s-p-e-k-t nur zwei weitere Male vor. Trotzdem habe ich das Gefühl, das dieser Text einen Sachverhalt andeutet, der irgendetwas (wenn nicht sogar viel) mit dem zu tun hat was wir als eine Facette "respektvollen Verhaltens" beobachten können.  Der Beitrag fällt in seiner Intention in die Kategorie "Hin zu einer Theorie des Respekt" und entsprechend setzt er eine gewisse Beschäftigung mit einer soziologischen oder psychologischen Systemtheorie voraus; auch um eine sinnvolle Prägnanz der Darstellung zu erreichen. Ich bin nicht ganz sicher, ob die hier angestrebte "Tieferlegung" der Beobachtung bestimmer Verhaltensphänome so sinnvoll ist. Deswegen ist der ganze Beitrag auch als Bearbeitung einer offenen Frage zu verstehen.

Wie der Name schon sagt reproduzieren autopoietische Systeme sich selbst ständig in einer Umwelt, von der sie sich unterscheiden und in der sie sich erhalten. Um sich in ihrer Umwelt orientieren zu können (um wiederum die eigene Reproduktion abzusichern), müssen solche Systeme sich selbst überraschen können (Information erzeugen).

Mit "Unvoreingenommenheit" ist hier eine notwendige (Gleichwahrscheinlichkeits-, oder Zufalls-) Funktion gemeint, die ein selbstreferenzielles Systeme benötigt; nämlich als Bedingung der Möglichkeit einer Orientierung an seiner Umwelt. Ein System, dessen Beobachtungen immer Ableitungen von Selbstbeobachtungen sind, ist darauf angewiesen in gewissem Umfange Veränderungen der Umwelt mit eigenen Veränderungen beantworten zu können. Dazu unterscheidet ein System Selbst- und Fremdreferenz.

Um von eigenen Veränderungen auf Umwelt schließen zu können muss ein System sich irritieren lassen. Also z.B. muss es, um von eigenen (und nur eigenen) Wahrnehmungen auf eine Umwelt schließen zu können (und dabei noch von einem Blick-nach-draussen zu sprechen), einen Teil seiner ambiguen Unterscheidungsoperationen durch Irritationen an seinen Grenzen (unabhängig von Impulsen der Selbstreferenz) entscheiden lassen. Wenn man so will entkoppelt ein selbstreferetielles System einen Teil seiner Prozesse von einem anderen, es macht einen Teil weitgehend unabhängig von einem Anderen und gleichzeitig sensibel für Umweltirritation. In einem solchen System ist dann nicht mehr alles mit allem verbunden und folglich: Nicht jede Irritation des Systems (egal wo!), löst alle Ambiguitäten der laufenden Prozesse auf. Das System läuft in einer (operativen) Differenz zu sich selbst und kann so "freiwerdende Ambiguitäten" abhängig machen von lokalen Irritationen an seiner Grenze zur Umwelt (damit sind diese Prozesse natürlich immernoch anhängig von der eigenen Bewegung (Motorik), allerdings nicht mehr nur von dieser, sondern eben auch von einer perspektivischen (grenzabhängigen) Umweltirritation). Das System baut Fremdreferenz in seine Prozesse ein, es entwickelt so eine Perspektive und nur so ist es in der Lage an sich selbst Umwelt zu beobachten.

Mit anderen Worten: ohne eine Unvoreingenommenheit des Systems gegenüber einem Teil seiner eigenen Prozesse gibt es keine Information im System. Und Unvoreingenommenheit meint eben nicht einfach ein vergessen, ignorieren oder ein einfach zulassen von Systemopertaionen; nein, es meint vielmehr die Bedingung eines mit Umwelt rechnenden Systems (z.B.  Gesellschaft), die eigenen Operationen (in gerade noch erträglichem Maße) als ungewiss zu behandeln, um sich selbst, an sich selbst überraschen zu können. Denn nur zum Preis von Ungewissheit gibt es Überraschung als Information (und nicht als Korruption))

Ist es nicht möglich, das das was heute z.B. als Reziprozitätsnorm gehandelt wird und was da als Wurzel des Sozialen gefeiert wird, das es sich dabei vielleicht um etwas handelt, das mit den Worten Reziprozität und Norm eher schlecht beschrieben ist? Der Begriff Reziprozität meint zwar ein hin und her, betont auch die Wechselseitigkeit, impliziert aber in seiner Verwendung bevorzugt eine sukzessive Komponente. Die Phänomene auf die wir uns beziehen sind nun aber Phänomene simultan evoluierender Systeme (vgl. Begriffe wie z.B. Konditionierte Co-produktion, multi-process-model oder Interpenetration).Und auch der Begriff der Norm ist unbrauchbar für unsere Zwecke. Er impliziert deutlich eine idealisierte Routine und unterscheidet sich gern und hochtrabend mit moralischem Trärä von Opportunität. Aber auch eine Unterscheidung von Normativität/Opportunismus bringt uns hier nicht wirklich weiter.

Die Frage wäre ja auch immer: Wozu eine Reziprozitätsnorm?

Man kann davon ausgehen, das der Begriff der Reziprozitätsnorm versucht zuviel auf einmal zu klären. Ich vermute weiter, das wir zumindest einen Teil der Verhaltensweisen, die bisher mit diesem Begriff angegangen wurden sehr viel besser erklären können, wenn wir sie als Verhalten zum Schutz einer hier skizzierten Unvoreingenommenheitsfunktion beschreiben. Dann gibt es ein doppeltes Warum geliefert, nämlich: etwas wie reziprozitätsnormgerechtes Verhalten kümmert sich (wenigtens zu einem Teil) um den Schutz der Unvoreingenommenheitsfunktion. Und eine Unvoreingenommenheitsfunktion ist, wie ich nur kurz angerissen habe, nachvollziebar eine Bedingung einer Umweltorientierung von selbstreferentiellen Systemen.

Das Verhalten, das bisher unter die Kategorie "Schutz der Reziprozitätsnorm" fiel, ist in den meisten Fällen vielleicht besser beschrieben als ein Symptom einer Immunreaktion von sozialen und psychischen Systemen. Und der Schutz einer Unvoreingenommenheitsfunktion kann ein triftiger Grund (neben anderen) für eine solche Immunreaktion sein. Gehen wir einfach mal weiter (mit der Soziologie) und sagen ganz allgemein, das man moralische Kommunikation als eine Art Immunreaktion von sozialen Systemen und Emotionen entsprechend als eine Art von Immunsystems psychischer Systeme beschreiben kann. Dann kann man zumindest die Frage stellen: In welchen Fällen geht es bei Moral (soziale Systeme) und Emotionen (psychische Systeme) um eine Immunreaktion, die eine Ungewissheitsfunktion verteidigt?

Zweifellos gibt es noch andere Bedingungen für autopoietische Reflexionsprozesse. Es steht jedoch die Frage im Raum, ob wir einen Teil von beobachtbarem Verhalten distinkt beschreiben können, als ein Verhalten dessen "Zweck" es ist ein autopoietisches System auf bestimmten Reflexionsebenen (hier in seiner Unvoreingenommenheitsfunktion) abzusichern. Und wenn wir Verhalten daraufhin beobachten, ob es in irgendeiner Weise eine Unvoreingenommenheitsfunktion sichert, sind dann da nicht auch jede Menge Verhaltensweisen dabei, die wir vorher mit dem Label "resepektvolles Verhalten" kategorisiert haben?

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Zusatz 25.10.09/17:44: Zuallererst ist ein autopoietisches System natürlich auch Voreingenommen; nämlich von der Notwendigkeit seiner eigenen Reproduktion (irgendetwas muss es ja überaschen. Und ohne Voreingenommenheit, der, immerschon unter einem Komplexitätsgefälle operierenden, Autopoiesis selbst, gibt es keine Überaschung). In diesem Sinne: Voreingenommen sind autopoietische Systeme durch ihre, im Unterschied zur Umwelt, komplexitätsunterlegene Selbstreferenz, an deren Veränderungen sie überhaupt erst Selbst und Fremdrefrenz unterscheiden und durch deren Vergleich sie überhaupt erst auf Umwelt schließen können. Aber Voreingenommen ist ein autopoietisches System darin "das", nicht aber "wie" die eigene Reproduktion fortfährt. Die Frage ist dann: wie soll man sich modellhaft vorstellen, wie die Unterscheidung von Voreingenommen/Unvoreingenommen hier verwendet wird, wenn gesagt wird: das System ist voreingenommen gegenüber dem "das" und unvoreingenommen gegenüber dem "wie" der eigenen Re-produktion? Vielleicht gelingt es mir dies kurz anzudeuten.

Ein autopoietisches System ist hier nicht als nur eine zirkuläre Sequenz zu denken, die sich selbst reproduziert ( Also A > B > C > A > B > C .... ). Es geht vielmehr um eine Vielzahl solcher Ketten, solcher Perioden, die nicht nur sehr lang sein können, sondern zudem ineinander verschränkt sind.
Stellen wir uns z.B. drei solcher Perioden vor.

1.    A > B > C > A > B > C ...
2.    1 > 2 > 3 > 1 > 2 > 3 ...
3.    A > 1 > B > 2 > C > 3 > A > 1 > B > 2 > C > 3 ...

Und stellen wir uns weiter vor, das die Periode 3. pro Durchlauf immer einen Buchstaben in Periode 1. verortet und immer eine Zahl in der Periode 2. Die Entscheidung welcher der drei möglichen Buchstaben aus Periode 1. und welche der drei möglichen Zahlen aus Periode 2 in die Periode 3. eingebaut wird, sei zunächst dem Zufall überlassen (das wäre dann sozusagen maximale Unvoreingenommenheit).

Weiter wird aber argumentiert, das dieser Zufallsentscheid abhängig gemacht werden kann von wiederum anderen Zyklen, die ihrerseits ihren Zufallsentscheid abhängig von Umweltirritation verändern, ohne ihn dabei festzustellen (Der Zufall muss sozusagen von Schrit zu Schritt bewahrt bleiben, um überhaupt Veränderungen als solche registrieren zu können (Das meinte ich oben mit einer Unvoreingenommenheitsfunktion); wenn man so will: Damit Voreingenommeheit und Unvoreingenommenheit sich nicht wechselseitig blockieren, sondern kreativ werden können.)

So versuche ich hier im Beispiel ein möglichst einfaches Gebilde vorzustellen, das aus nur drei jeweils strukturdeterminierten, ineinander verschränkten Perioden besteht und in seinem Verlauf eine gewisse (zufallssbedingte) Selektivität in Entscheidungen überführen kann. Ein Gebilde in dem umweltabhängig Variationen in der Verschränkung dieser Perioden auftreten können; und zwar ohne das die reproduktive Einheit des Zusammehhanges unterschiedlicher jeweils strukturdeterminierter Perioden gefährdet wäre (wie sonst könnte man ein solches System umweltsensibel denken?).

Letztlich geht es also nicht darum jetzt alles mit Unvoreingenommeheit oder mit Voreingenommenheit zu erklären. Das Schema Voreingenommen/Unvoreingenommen scheint mir nur gut geeignet um, gewissermaßen in einem semantischen Trick, bestimmte Reflexionsprobleme autopoietischer Systeme anzudeuten.