Freitag, 15. Mai 2015

Personales Vertrauen, Systemvertrauen und das Dilemma von Souveränität und Vertrauen

Wir brauchen Vertrauen gegenüber den Leuten, denen wir generell Mißtrauen müssen. Das scheint mir ein vordergründiges Problem zu sein, dass uns der gegenwärtige Skandal um Politik/Staat und Geheimdienste ins Gesicht wirft. Es wird ein entscheidendes Vertrauensproblem aufgeworfen. Wie allgemein bekannt überbrücken wir durch unser Vertrauen die Unsicherheitsmomente im Verhalten anderer Menschen.

Mit Niklas Luhmann („Vertrauen - Ein Mechanismus zur Reduktion von Komplexität“, 1968) können wir zwei Formen von Vertrauen unterscheiden. Personenvertrauen und Systemvertrauen. Auf dem Boden der alltäglichen Weltvertrautheit entsteht zunächst personales Vertrauen. Im Modus des personalen Vertrauen wird die Unvorhersehbarkeit des Verhaltens eines anderen zunächst erlebt wie eine Unvorhersehbarkeit gegenüber einem Gegenstand. Und weiter:
"[...] In dem Maße, als der Bedarf für Komplexität wächst und der andere Mensch als alter ego, als Mitverursacher dieser Komplexität und ihrer Reduktion, in den Blick kommt, muß das Vertrauen erweitert werden und jene ursprünglich-fraglose Weltvertrautheit zurückdrängen, ohne sie doch je ganz ersetzen zu können. Es wandelt sich dabei in ein Systemvertrauen neuer Art, das einen bewußt riskierten Verzicht auf mögliche weitere Information, sowie bewährte Indifferenzen und laufende Erfolgskontrolle impliziert. Systemvertrauen läßt sich nicht nur auf soziale Systeme, sondern auch auf andere Menschen als personale Systeme anwenden. Diesem Wandel entspricht, wenn man auf die inneren Voraussetzungen des Vertrauenserweises achtet, ein Übergehen von primär emotionalen zu primär darstellungsgebundenen Vertrauensgrundlagen.“ (Luhmann, N. (1968) Vertrauen, S.26)
Nun scheint mir der Skandal um Politik/Staat und Geheimdienste ein Anlass der den offensichtlich weitgeläufigen Modus des personalen Vertrauens in seinen Komplexitätsreduktionsfähigkeiten sprengt und aufmerksam macht auf benanntes Systemvertrauen, das als Konzept wiederum offensichtlich nicht so weitläufig durchdacht wurde wie benanntes Personenvertrauen, aber dennoch eine gewisse tragende Bedeutung bekommen hat. Alles scheint furchtbar kompliziert. Wir brauchen Vertrauen gegenüber den Leuten, denen wir generell Mißtrauen müssen. Das ist im Modus von alltäglichem Personenvertrauen ein schwer zu überbrückender Widerspruch, der bekannte und allseitsgelesene Beiss-, oder Ingnorier- Reflexe auslöst. Aus dieser Perspektive schein alles auf zwei extreme Positionen zuzulaufen: 1. Das ist schon alles Richtig oder 2. Revolution!

In einfacheren Sozialsystemen, auf die wir noch recht umfangreich eingestellt zu sein scheinen, wurde die „rechte Ordnung“ einfach als normativ gegeben und vertraut vorausgesetzt.
" [...] Unpersönliche Formen des Vertrauens waren nicht erforderlich. Wo eine Vermittlung und Deutung dieser Weltordnung nötig war, nahm sie den Weg über die Autorität von Göttern, Heiligen oder wissenden Interpreten, denen wie einer Person vertraut wurde." (ebd, S.60)
Entsprechend war und ist bis heute moralisches Getue und Gerede die häufigste Reaktion auf Vertrauenprobleme und leider bleibt es damit auf einer Ebene der Normen. Normen deren Richtigkeit - wie gesagt - unterstellt werden, werden dann auf Konformität und Abweichung hin beobachtet. Wobei Konformität personale Bestätigungserklärungen und Abweichung personale Anerkennungsverzichtsreflexe auf sich zieht. Das inspiriert dann nicht gerade zu Fagen nach Sinn und Unsinn des Systems im allgemeinen, welches ja mit der Annahme der Richtigkeit der Norm bereits bestätigt ist.

Personales Vertrauen verschiebt letztlich den Blick auf Personen/Experten. Auf Personen/Experten, denen unterstellt wird, dass sie Wissen als „überaschenden Gegenstand“ soweit gebändigt haben, dass sie widerspruchsfrei die Geschichte vom Wissen als System logisch geschlossener Zusammenhänge erzählen können (und so personales Vertrauen, z.B. als Politiker aufbauen können).
"System ist dieses Wissen [aber] nicht etwa im Sinne einer logisch geschlossenen Zusammenstellung von Sätzen, sondern im Sinne einer Ordnung kommunikativen Verhaltens, die eine gewisse Sorgfalt und Beachtung bestimmter Regeln bei der Auswahl und Verwendung von Prämissen einer Mitteilung sicherstellt. Jeder verläßt sich beim Bezug solchen Wissens darauf, daß im System genug Kontrollen der Zuverlässigkeit eingebaut sind und daß diese Kontrollen unabhängig von den persönlichen Motivationsstrukturen der jeweils Beteiligten funktionieren, so daß er diejenigen, die das Wissen erarbeitet haben, nicht persönlich zu kennen braucht!" (ebd, S69)
Dementsprechend ist es heute nicht mehr plausibel, bzw. zunächst erstmal einfach nicht mehr durchhaltbar Wissen als logisch geschlossene Satzketten vorauszusetzen und dazugehörigen Autoritäten, bzw. Experten, letztlich als Verkünder des Richtigen, als Verkünder der Norm personal zu vertrauen. Vor allem nicht im Politischen.

Wir leben in einer Gesellschaft, die sich in Ihrer Differenziertheit trägt über vorhandenes Systemvertrauen. Und seltsamerweise über eine art praktisches Systemvertrauen, das im individuellen Einzelfall als personales Vertrauen wahrgenommen werden kann und als "Quasi-System,vertrauen" wirkt. Das lässt die These offen, dass Systemvertrauen entstehen, bzw kommunikativ in Anspruch genommen werden kann, bevor es als solches individuell registriert wird. Funktionale „Vorstufen“ des Systemvertrauens wie Religion, Normen und das angedeutete traditionelle Wissensverständnis, können scheinbar den Weg bereiten in eine Differenziertheit der Gesellschaft, die dann wiederum die einzelnen schließlich in die Lage bringt, dass auch die „Vorstufen“ zu eng werden, um gesellschaftliche Differnziertheit weiter durchzuhalten. Das ist hier eine parallel geführte These.

In so einer Situation könnten wir uns gesellschaftlich befinden. In einer Situation in der die Differenziertheit der Gesellschaft, um deren fortbestehen, darauf angewiesen ist, dass ein allgemeines Verständnis von Systemvertrauen weitreichender durchreflektiert wird. Die Grenzen des Personenvertrauens und seinen „Vorstufen zum Systemvertrauen“ könnten entgültig erreicht sein.
"Mit einem leidenschaftlich bis routinierten Werben um "Vertrauen in die politische Führung" ist es [dann] nicht [mehr] getan, obgleich es nicht unwesentlich ist, wenn die Personifizierung einer Durchlaufstation des Entscheidungsprozesses an der Spitze des politischen Systems es ermöglicht, ein quasi persönliches Vertrauen in den Dienst der Politik zu stellen." (ebd S.70f)
Wenn wir in diesem Sinne tatsächlich in der Politik an den Grenzen des „quasi-persönlichem“ Vertrauen angekommen sind, was könnte eine angemessene Reaktion der Politik daraufhin sein? Eine Antwort darauf scheint zumindest naheliegend, wenngleich auch durch ein stures Durchhaltenwollen der „alten Ordnung“ in Normen und sonstigen „quasi-personalen“ Institutionen mittelschwer verbaut.

Naheliegend wäre es erstmal die Ergebnisse der Soziologie in den letzten 50 Jahren mal politisch zur Kenntnis zu nehmen und ein tieferliegendes Verständnis von sozialen Strukturen anzustreben. In diesem Fall könnte man z.B. auf die Idee kommen, den Blick auf Bürokratie, bzw Verfahren der Politik und der Verwaltung zu lenken und von einzelnen Personen im System weiter Abstand zu nehmen. Und ich meine hier natürlich nicht den allseits bekannten Blick auf Bürokratie als Hindernis, das es im Prinzip moralisch zu kritisieren gilt, sondern den Blick auf Bürokratie als rechtsstaatliche Verfahren, die auch das Vermögen haben den einleitenden Widerspruch: „Wir brauchen Vertrauen gegenüber den Leuten, denen wir generell Mißtrauen müssen.“ auf eine produktive und tragfähige Art und Weise zu überbrücken. In diesem Zusammenhang möchte ich hier Dirk Baecker reinmischen:
"Und bei der Bürokratie ist das der klassische Max Webersche Grund: Eine Bürokratie ist in so hohem Maße in der Lage, sich sozialen Bindungswirkungen zu entziehen, dass allein das sie erfolgreich macht. Kein Mechanismus – deshalb hat Max Weber von Rationalität gesprochen – kein Mechanismus ist in der Lage, sich den „Klebrigkeiten“ des sozialen Geschäftes geschickter zu entziehen, als der bürokratische. Für Luhmann steckt in dem Begriff „Taktunfähigkeit“ jedoch die Beschreibung genau des alltäglich sichtbaren problematischen Verhaltens von Bürokratien, die immer wieder dafür sorgt, das sozusagen Minute für Minute – man braucht nur einen Beamten vor sich zu haben – man sieht, wie recht die Kritik hat. Das wissen zwar die Kritiker nicht, das sie sozusagen auf alltägliche Auslöser eines problematischen Verhaltens reagieren – das wissen sie in der Regel nicht, etwas vorsichtiger gesagt – aber der Soziologe weiß es über die Kritiker. Und der Soziologe kann unter Soziologen wissen, warum sie recht haben. Taktunfähigkeit!" (Baecker, D. (1999) Niklas Luhmann und die Manager, S.3, http://userpages.uni-koblenz.de/~dkwitsch/Luhmann%20Freiburg/Freiburger%20Reden%20-%20Dirk%20Baecker.pdf )
Neben der Taktunfähigkeit bietet die Bürokratie aber natürlich auch andere nützliche Funktionen, z.B. bestimmte Pfade transparent machen zu können, bzw. anders herum: mehr oder minder strenge Ausnahmefälle definieren zu definieren, um bestimmte Pfade dem Blick des Souveräns vorläufig zu entziehen. In einem demokratischen Rechtsstaat würde man ersteres wohl als Standardeinstellung wissen wollen. Wohlwissend, dass es ausgefuchste Bereiche gibt, die sich zu recht nicht so einfach adhoc dem Blick des Souverän entblößen, sondern eine Zeit lang in Geheimhaltung oder nicht-öffentlichkeit „abkühlen“, bevor der Souverän ein solches Ausnahmephänomen wieder vorgelegt bekommt und entsprechend Veränderungen vornehmen kann. So sollte es sein.

Aufklärung könnte systematisch auf Lob und Kritik der Bürokratie in ihrer gesellschaftlichen Funktion hinweisen, statt bei Lob und Kritik von Personen hängen zu bleiben. Zumindest was den einleitenden Widerspruch betrifft „Wir brauchen Vertrauen gegenüber den Leuten, denen wir generell Mißtrauen müssen.“ scheinen rechtsstaatliche Verfahren und ihre möglichen „Kombinatoriken“ eine Lösung anzubieten. Allerdings natürlich zu einem Preis. Dass nämlich das Dilemma "nur" reformuliert, und nicht aufgehoben werden kann. Gemeint ist das Dilemma von Souveränität und Vertrauen im Staate. Dazu abschließend hier und heute nochmal Niklas Luhmann mit einer ausgiebigen Passage:
"Die Ungeklärtheit der vertrauensbildenden Mechanismen liegt zunächst darin begründet, daß im politischen Bereich sowohl das Moment des Einsatzes, der Vorleistung des Vertrauenden, als auch die Hinsichten, in denen er vertraut, sich ins Unbestimmte verflüchtigen. Der Metapher vom "Staatsvertrag", durch den freie Naturmenschen sich selbst oder dem eingesetzen Souverän Vertrauen gewähren, entspricht keine Wirklichkeit. Gewiß: der Staatsbürger wählt. Aber die politische Wahl ist keine Beauftragung mit Interessenvertretung. Der deklarierte Leitgedanke dieser Institution lautet, daß die gewählten Volksvertreter nach Kriterien des Gemeinwohls zu entscheiden haben. Aber sie beanspruchen souveräne Entscheidungsgewalt, und einem Souverän kann man nicht vertrauen. Letzte Entscheidungsgewalt produziert ihre Normen selbst. Ein Vertrauen kann sich hier allenfalls darauf beziehen, daß Grenzen der Souveränität beachtet werden. Dieses Dilemma von Souveränität und Vertrauen ist jedoch nur eine überzogene begriffliche Fixierung des Problems der politischen Komplexitätsreduktion, das in der Wirklichkeit nicht mit dieser Gedankenschärfe, sondern in vielen kleinen Schritten der Informationsverarbeitung gelöst wird. Schritte, die zunächst Interessen artikulieren, Konsensmöglichkeiten abfühlen, Personen in Positionen schieben, generalisierte Programmvorschläge testen, die dann eine vorläufige Erstarrung des Verbindlichen durch Gesetzes-, Budget- oder Richtlinienentscheidungen herbeiführen, welche dann durch Prozesse der "Auslegung" und "Anwendung " zu unzähligen Fallentscheidungen kleingearbeitet werden. Jeder Schritt erklimmt eine neue Stufe der Selektivität, die neue Informationen aufnimmt und Alternativen ausscheidet. Souverän ist daran eben dieses Moment der Reduktion, der Verengung des Entscheidungshorizontes, des Ausscheidens anderer Möglichkeiten; vertrauenswürdig macht diesen Prozeß, daß er in vielen kleinen Schritten erfolgt und auf allen Stufen informierbar bleibt, so daß die Souveränität, obwohl der Prozeß, um die Einheit der Entscheidung zu garantieren, durch Zentralstellen geleitet wird, nicht mit einem Schlage, also willkürlich, ausgeübt werden kann. Auch das soziale System lernt, wie es scheint. Vertrauen am besten in kleinen Schritten, die im einzelnen nicht viel riskieren. Angesichts dieser Ordnung der Informationsverarbeitung kann das Vertrauen des Bürgers nicht mehr die einfache Form des Vertrauens in die Recht- und Zweckmäßigkeit der Amtsausübung durch den Amtsträger annehmen. Vielmehr differenziert sich die Vertrauenslage. Politisches Vertrauen wird auf zwei verschiedenen Ebenen der Generalisierung abverlangt und erteilt-", Der Bürger hegt einerseits bestimmte Entscheidungserwartungen, mögen sie ihn selbst oder die ihm richtig erscheinende Art von Politik betreffen; und er kann die politische Wahl als Ausdruck der Enttäuschung oder der Zufriedenheit "im großen und ganzen" benutzen. Zum anderen vertraut er dem politischen System als solchem dadurch, daß er im Lande bleibt und damit rechnet, eine menschen würdige Existenz führen zu können. Die einzelnen Entscheidungserwartungen enthalten zwar ziemlich eindeutige Kriterien des Vertrauens, engagieren den Bürger aber nicht zentral und jeden auf verschiedene Weise. Der Enttäuschungsausdruck kann nicht generalisiert werden, kann leicht gemacht werden und fast ohne Folgen bleiben. Das Systemvertrauen ist dagegen hochgradig unbestimmt, involviert aber andererseits ein Engagement und Folgen, die bis an Leben und Tod gehen können. Die Verzahnung beider Ebenen des Vertrauens bewirkt die Stabilität der Gesamtordnung und verkompliziert die Vertrauensfrage im Vergleich zu alten Vorstellungen vom persönlichen Vertrauen in den Amtsträger." (Luhmann, N. (1968) Vertrauen, S.71f)