Wenn man den Begriff Geschichten sehr knapp fasst, dann scheint ihre Funktion darin zu liegen Verhältnisse in der Welt in eine kommunizierbare und tradierbare Form zu überführen (z.B. Naturereignisse, vgl. Sagen, Mythen, usw.). In dieser Fassung geht es um ein Art Führungs- oder Lenkfunktion. Man stellt sich vor nützliches Wissen wird in die nächste Generation kopiert und leitet diese dann an.
Wenn man aber nicht nur an die klassischen, epischen Geschichten denkt, sondern auch die vielen kleinen Geschichten miteinbezieht, die im Alltag erzählt werden, dann kann man auch eine andere Funktion von Geschichten beobachten.
Man schaue sich nur an wie im Alltag Geschichten aufeinander reagieren, wie sie variiert und aufeinander bezogen werden, wie sie sich gegenseitig provozieren, sich variieren und aufeinander verweisen. Es scheint offensichtlich, das wir Geschichten in immer neuen Situationen ausprobieren und so mit ihnen die Situation prüfen. In wie weit hilft eine Geschichte in einer Situation, bzw. in wie weit nicht? Kann ich durch Variation einer unterstellten Geschichte, die Situation besser erklären? Kann ich durch Variation der unterstellten Situationseinschätzung, die Situation mit einer vorhandenen Geschichten erklären? Als Schemata von Generalisierungen helfen uns Geschichten zumindest dabei schnell unsere aktuelle Wahrnehmungen zu sortieren und entsprechend schnell differenzierte Kommunikation in Gang zu bekommen. Und so ist es wiederum möglich schnell Situationen erneut auszuloten und bewerten zu können; durch Kommunikation.
Die These ist: Geschichten bieten sowohl eine Leit-, als auch eine Orientierungsfunktion. Aber diese Leit-, bzw. Orientierungsfunktion hat eine merkwürdige Eigenart. Sie leitet nur, wenn sie orientiert wird und sie orientiert nur, wenn sie geleitet wird. Um diese schwachsinnig anmutende Formulierung etwas klarer zu machen sei darauf hingewiesen, das ein solcher Zusammenhang zwischen nur gleichzeitig möglicher Leitung und Orientierung für technische System nichts Aussergewöhnliches ist (Die für ein egozentrisches Subjekt paradox klingende Semantik, der nur gleichzeitig verfügbaren, aber sich gegenseitig bedingenden Funktionen, wird aufgelöst, indem die Funktionen wechselseitig auf gleichzeitig vorhandene Agenten verteilt werden). Es gibt z.B. Entwicklungen bei modernen Verkehrsleit- und Navigationssystemen, die in diesen Sinne in eine interessante Richtung gehen. Es wird bei diesen Verkehrsleit- und Navigationssystemen darauf verzichtet jedes einzelne Auto, jedes einzelne Navi mit einer lokal fixierten Landkarte auszustatten (Veränderungen auf den Strassen sind so nur aufwendig für das Gesamtsystem zu aktualisieren). Statt dessen stellt man sich vor, es gibt im Netz eine leere(!) Karte und alle Autos, alle Navis würden - getrackt durch ihr GPS - Linien auf diese Karte ziehen (die mehr oder weniger schnell verhallen, also verschwinden). Wenn Autos nun durch die Gegend fahren, dann entsteht so ein Netz aus Linien, das ziemlich genau die aktuell befahrbaren Strassen zeigt. Die Frage ist dann: Wieviele Autos müssen Linien ziehen und wie schnell sollen diese Linien wieder verschwinden, damit ein nützlicher Detailgrad auf so einer dynamischen Landkarte erreicht wird?
Und um nun langsam wieder den Bogen zurück zu der Funktion von Geschichten einzuleiten: Das hier eben kurz beschriebene Verkehrleitsystem macht zunächst nur beispielhaft klar, das meine paradoxe Metapher eines Leit-/Orientierungssystems, das nur leitet, wenn es orientiert wird und wiederum nur Orientierung bietet, wenn es geleitet wird, sinnvoll aufgelöst werden kann, nämlich wenn man Leiten und Orientieren auf gleichzeitig und getrennt voneinander operierende Instanzen verteilt, die dabei auf Latenzeffekte eines vermittelnden Medium setzen können.
Dabei bedarf es zwar zunächst einer Phase des Anschwungs, also ein paar Linien müssen schon gezogen sein. Aber wenn dann genügend Linien gezogen sind, dann kann A sich an den Spuren von B orientieren, während sich B an den Spuren von A orientieren kann. A und B beobachten dann nicht Realität, sondern sie beobachten ihre Interaktion in einem Medium. Sie können z.B. mit den dabei entstehenden Artefakten jeweils so tun als wüssten sie damit etwas über Realität an sich (ohne sich dabei allzuleicht zu widersprechen); vorausgesetzt eben die Aktivität der Teilnehmer ist hoch genug und unterscheidet sich ausreichend voneinander.
Um in dem Bild des Verkehrsleit- und Navigationssystemen zu bleiben, kann man sagen: Geschichten sind soetwas wie die Möglichkeit die Anschwungphase auf der leeren Karte zwischen A und B mit ein paar unterstellten Linien zu überbrücken. Ob diese Geschichten dabei etwas mit der Realität zu tun haben ist dabei nicht so sehr relevant.Viel wichtiger ist, das diese Überbrückung die Teilnehmer zu weiteren Kommunikationen anregt, die, um weiter im Bild zu bleiben, eine mit Geschichten präparierte Karte dann erneuern, ausbauen oder erhalten können; dies jedoch immer nur durch anschließende, weitere Kommunikation. Ohne Kommunikation verhallen die Linien, es leert sich die Karte und damit verschwindet die Möglichkeit einer sinnvollen Orientierung. Beschriebene Karten sind in diesem Bild quasi ein Latenzphänomen durch Kommunikation irritierter Bewusstseine.
Es geht hier also nicht darum zu sagen, das ein repräsentatives Verhältnis von Geschichten zu einer Realität-an-sich für uns das ist worauf es ankommt. Für ein Bewusstsein geht es eher um ein Verhältnis von Geschichten, Wahrnehmung und aktueller Kommunikation. Wirklich wichtig ist dabei, das Geschichten verglichen werden, daß es also nicht nur eine Geschichte gibt. Denn nur durch den Vergleich ist es möglich Geschichten und den Zusammenhang zu anderen Geschichten im Kontext einer aktuell wahgenommenen Kommunikationssituation auf Plausibilität zu prüfen, so wiederum Rückschlüsse auf die Wahrnehmung zu ziehen und zügig sinnvolle Anschlusselektivitäten für die weitere Kommunikation zu organisieren).
Anders ausgedrückt: Man stelle sich wieder diese leere Karte vor. Wenn nun B leicht zeitversetzt dem A direkt folgt, dann fährt A blind und B heftet sich an die "blind erfahrene Linie" von A. Nicht sehr sinnvoll. In einer Kommunikation wäre das der Fall, wenn A irgendnetwas sagt und B daraufhin dies einfach nur wiederholt. Hier wird deutlich: A und B müssen, sich gegenseitig ergänzend, zeitlich und räumlich unterscheidbare Linien erzeugen. Bzw. in einer Kommunikation müssen A und B sich zeitlich, sachlich und sozial unterscheidbare Geschichten erzählen (und das ergänzend und nicht kopierend). A und B sollten sich eher nicht imitieren, sie sollten sich (quasi bis an die Grenze der Provokation) ergänzen, wenn sie die Leit-/Lenk-Funktion von Geschichten auf einer "kommunikativen Leer-Karte" als Informationsquelle über ihre Umwelt nutzen wollen.
Interessant ist also wie Geschichten durch wechselseitiges Erzählen, bzw. nicht-Erzählen Anschlussselektivitäten im Nacheinander eines Gesprächs ermöglichen und wie inspirierend dies für die Teilnehmer ist. Geschichten ermöglichen uns Orientierung. Der kontextabhängige Vergleich reproduzierter, bzw. variierter Geschichten ermöglicht uns die Orientierung in unbekanntem Gelände. Geschichten geben uns Struktur, aber sie sagen uns nichts über die Welt. Sie sagen uns etwas über uns in der Welt (interessant dazu: siehe z.B. hier).