Mittwoch, 25. Juni 2014

Begriffe und ihre Funktion dem unbeobachtbaren eine Bezeichnung zu geben

Eine der für mich faszinierendsten Implikationen der modernen Systemtheorie betrifft die Funktion von Begriffen* und was wir mit Ihnen „machen“, während wir uns oft in einer ganz anderen Vorstellung darüber wähnen was wir da machen. Die These, die sich ergibt, lässt sich verkürzt in etwa so fassen: Wir benutzen Begriffe, um damit etwas zu bezeichnen, dass für uns (aus verschiedenen Gründen) unbeobachtbar ist und prinzipiell bleibt. Zwei Textstellen möchte ich anführen, um die These ein bischn in Stellung zu bringen. Es geht hier nicht um eine Ausarbeitung der These. Die kann man sehr sehr fein ausgearbeitet finden, wenn man sich mit den Theorien der beiden Autoren befasst. Mich zwingt quasi nur die Prägnanz der Worte und der Glaube der Wunsch, dass diese kurzen Textstellen auf so kleinem Raum, anderen eine ähnliche Freude bereiten wie mir. Diese beiden Textstellen, von zwei verschiedenen Autoren, zu zwei verschiedenen Zeiten, in zwei verschiedenen Kontexten, werfen für mich ein kurzes Schlaglicht auf eine Funktionsweise unserer Kommunikation, als eine Art „Abstastinstrument“. Ein Abstastinstrument, mit dem wir(wir!, nie ein einzelner) in die Welt hineinspekulieren können und das uns dann ermöglicht die Widerstände an unserem Erleben und Handeln zu nutzen, um es, um uns weiterzuentwickeln. Nicht indem wir danach unsere Wissenslücken gefüllt haben, sondern indem wir mit unserem Nicht-Wissen bestenfalls besser umgehen können. Denn defakto verringern wir nicht unser Nicht-Wissen, das wäre in gewisser Weise auch fatal. Mit jeder beantworteten Frage, entstehen ja gerade viele neue. "Je größer die Insel des Wissens, desto länger die Küste der Verzweiflung", wie ein von mir verehrter Prof manchmal sagte. Je mehr wir beobachten, desto mehr können wir nicht beobachten. Und dafür brauchen wir Kommunikation, um mit dem unbeobachtbaren umgehen zu können, das unsere Beobachtungen mit sich bringen. Aber ich schweife ab und lasse lieber endlich die beiden Autoren sprechen, die das alles sehr viel schöner ausdrücken.

Heinz: Also meiner Meinung sind Teilchen immer Lösungen von Problemen, die wir nicht andererweits lösen können. Also Erfindungen um gewisse Probleme erklären zu können. Das sind Teilchen.
Interviewer: Jetzt muss ich dumm fragen.
Heinz: Ja, das verstehe ich. Lassen Sie es mich ein bischn besser erklären. Sagen wir es ist eine Lücke in meiner Theorie. Da kann ich nicht mehr drüber springen. … Das sind einfach neue Teilchen, die entweder grün, gelb, oder sprechen oder ich weiss nicht was alles machen, die ersetzen das Loch in meiner Theorie. So behaupte ich ist jedes Teilchen was wir heute in der Physik lesen, ist die Antwort für eine Frage, die wir nicht beantworten können.“ (Heinz von Foerster, Interview: https://www.youtube.com/watch?v=PcPtl-vuGbI#t=7m20s)

Im weiteren könnt Ihr, wie angekündigt, die zweite Textstelle bewundern (oder auch nicht), die diesmal von Niklas Luhmann kommt und die Worte von Heinz von Foerster nochmal etwas präziser auf den Punkt bringt.

„Erwartungen gewinnen mithin im Kontext von doppelter Kontingenz Strukturwert für den Aufbau emergenter Systeme und damit eine eigene Art von Realität (= Anschlußwert). Das gleiche gilt, und hieran wird vollends deutlich werden, daß wir nicht mehr auf Parsons'schen Grundlagen formulieren, für alle semantischen Reduktionen, mit denen die beteiligten Systme eine für ihrewechselseitige Beobachtung und Kommunikation ausreichende Transparenz erzeugen. Ich denke an Begriffe wie Person, Intelligenz, Gedächtnis, Lernen. »Person« ist die Bezeichnung dafür, daß man nicht beobachten kann,wie es zustande kommt, daß Erwartungen durch Zusammenhang in einem psychischen System an Wahrscheinlichkeit gewinnen (oder anders formuliert: für den Sicherheitsgewinn des Kennenlernens), »Intelligenz« ist die Bezeichnung dafür,daß man nichtbeobachten kann,wie es zustande kommt, daß dasselbstreferentielle System im Kontakt mit sich selbst die eine und nicht die andere Problemlösung wählt. »Gedächtnis« ist die Bezeichnung dafür, daß man nicht beobachten kann, wie der komplexe aktuelle Zustand eines Systems in den nächsten übergeht, so daß man statt dessen auf ausgewählte vergangene Inputs als Indikatoren zurückgreifen muß. »Lernen« ist die Bezeichnung dafür, daß man nicht beobachten kann, wie Informationen dadurch weitreichende Konsequenzen auslösen, daß sie in einem System partielle Strukturänderungen bewirken, ohne dadurch die Selbstidentifikation des Systems zu unterbrechen. Die Beispiele ließen sich vermehren …“ (Luhmann, N. (1984) Soziale Systeme, S. 158)

Wäre dem nicht so, wie könnten wir Begriffe verwerfen, neu gründen und/oder mit neuen Verwendungen zu neuen Bedeutungen verhelfen? Garnicht! Sie würden dann feststehen, als beobachtet und damit wären sie quasi Gottes Wort; wir wäre geblendet und mit einem Schlag blind für weitere Möglichkeiten der Entwicklung. Begriffe wären dann mehr als nur in Stein gemeißelt (als Aufforderung, bzw. Befehl), Sprache hätte garnicht die wunderbare Eigenschaft sich zu entwickeln, sie wäre quasi bloßes Instruktionsinstrument, frei von jedem Kreativitätspotenzial. Alles wäre einfach so wie es ist, Ende. Die Grausamkeit einer Welt in der Menschen Sprache in so einem Impetus benutzen, die hat, so denke ich immer wieder, Rainer Maria Rilke zu seinem Gedicht geführt, dass mich immer am stärksten berührt hat; „Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort“, das da lautet:

Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
Sie sprechen alles so deutlich aus:
Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
und hier ist Beginn und das Ende ist dort.

Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,
sie wissen alles, was wird und war;
kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.

Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.
Die Dinge singen hör ich so gern.
Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.
Ihr bringt mir alle die Dinge um.



*Der Begriff Begriff bezeichnet hier sozusagen eine semantische Konzeption, quasi die durch Verwendung implizierte Bedeutung, im Gegensatz zum Wort Wort, das auf nackte sprachliche Einheit zielt.