Meine Aufmerksamkeit wurde gefangen, weil ich das Gefühl hatte in einer ungeahnten Komprimiertheit (47 Buchstaben im Dialogausschnitt), das Aufeinanderprallen zweier "Semantiken" zu erleben, die zudem psychologisch noch recht relevant wirken. "Semantiken" meint hier erstmal nichts weiter als: sozial konstitutierte Muster der Einschränkungen von Zuschreibungen laufenden Erlebens und Handelns.
Der Folgende Text ist der Versuch eine kommunikative Problemstellung kurz zu beschreiben und so auszuprobieren was dabei herauskommt.
Der Dialog
Beteiligte Personen:
anwesend; Kassiererin 1,
anwesend; Kassiererin 2,
abwesend; dritte Person (Kollegin)
(Vorgeschichte und weiterer Verlauf des Dialoges sind unbekannt, aber hier auch eher nicht von Interesse)
Kassiererin 1: Vielleicht hat Sie [eine Dritte Person (Kollegin)] das absichtlich gemacht?.
Kassiererin 2: Ne, die ist so.
Da ich an dieser Stelle bei Kassiererin 2 (der älteren und langjähigeren Mitarbeiterin in diesem Plusmarkt) bezahlt hatte und dann mit meinem Saft und Chips den Laden verlies, kann ich über den weiteren Verlauf bedauerlicherweise nichts sagen. Aber das ist auch -wie erwähnt- für die mögliche Problemstellung nicht wirklich relevant.
Was ist hier passiert? Das ist eine Frage, die dieser kurze Dialog spontan und heftig in mir ausgelöst hat. Die Frage, die mich nun bei der Annäherung an die Problemstellung leiten wird ist: welche Unterscheidungen werden hier getroffen und mit welchen Konsequenzen? Dabei möchte ich nicht auf die "Philosophie" der jeweiligen Kassiererin (oder gar auf die Philosophie der Philosophie) eingehen.
Ausgangspunkt ist für mich folgender: Offensichtlich hat hier eine Handlung einer dritten Person (Kollegin) zu einer bemerkenswerten Irritationen im Ablauf der alltäglichen Organisation geführt, und diese Irritation findet eine Beschreibung in dem vorgestellten kurzen Dialog von Kassiererin 1 und Kassierein 2.
Unterscheidungen und Zuschreibungen
Zu Satz 1 (Kassiererin 1): Vielleicht hat Sie das absichtlich gemacht.
Kassiererin 1 macht hier den Vorschlag die betreffende Handlung dieser dritten Person als eine überlegte, absichtsvolle Willenshandlung zuzuschreiben. Natürlich kann man das vielfältig ausdeuten. Aber ich beschränke mich hier auf meine ersten Assoziationen.
Die Zuschreibung von Absicht lässt zum einen zu, dieser dritten Person, ein Bemühen zu unterstellen, das durch erneute absichtliche Handlungen korrigierbar sein kann. Um eine juristische Formel zu bemühen, hier könnte man noch ein bestes Wissen und Gewissen unterstellen, das weitere Handlungen, dieser dritten Person, zu korrigieren in der Lage wäre. Gerade die Zuschreibung der Absicht, lässt hier sozusagen den Schluß zu, das die Handlung der dritten Person dieser als Irrtum unterlaufen ist und damit evtl. durch erneute Absicht korrigierbar sein kann.
(Eine andere Variante der Deutung wäre z.B., das der Hinweis auf die Absicht der dritten Person dieser eine besondere Boshaftigkeit unterstellt, mit der diese den Ablauf in der Organisation irritiert. (Das nehme ich jedoch, in Abgrenzung zur Antwort von Kassiererin 2, hier nicht an)
Die Unterscheidungen die ich hier als wirksam unterstelle sind:
Handlung einer Dritten Person/Irritation im Ablauf der Organisation
Absicht/Irrtum (als Beschreibung der beobachteten Handlung der dritten Person)
Interessant wird der Dialog aber erst durch den erwidernden Satz 2 von Kassiererin 2.
Kassiererin 2: "Ne, die ist so."
Es scheint so, als ob Kassiererin 2 damit die Unterscheidung
Handlung einer Dritten Person/Irritation im Ablauf der Organisation
übernimmt. Dann jedoch die Unterscheidung Absicht/Irrtum austauscht gegen die Unterscheidung
Absicht der Person/Wesen der Person.
Durch diesen Austausch der Unterscheidung wird scheinbar die Ursache der Handlung nicht der -wie auch immer bemühten- Absicht der dritten Person zugeschrieben, sondern einer dieser Absicht nicht zugänglichen Wesenseigenschaft dieser dritten Person.
Dementsprechend würde, in dieser Perspektive, mit einer Lernfähigkeit der dritten Person, dieses Problem betreffend, nicht zu rechnen sein. Auch weitere irritierende Handlungen dieser dritten Person wären dann kein Ausdruck einer korrigierbaren Bemühung, sondern eher Bestätigung eines Wesensdefektes.
Im besten Fall könnte noch die Absicht der dritten Person dazu führen, das diese (durch eine Art Heuchlerei) ihr Wesen soweit verstellt, das sie nicht mehr durch irritierende Handlungen auffällt. Keine weiteren Irritationen wären dann lediglich eine Bescheinigung für eine Art Unaufrichtigkeit, des verzweifelten Bemühens. Da will sich jemand einschleichen!
Hingegen würde ein erneut irritierendes Verhalten der Person natürlich sofort den Wesensdefekt bestätigen. Garnicht vorzustellen welche Verschwörungstheorien überdurchschnittliche Leistungen dieser dritten Person in dieser Perspektive provozieren würden.
Bemerkung
Faszinierend war für mich die Tatsache, das in diesem Dialog die Unterscheidungen
Absicht/Irrtum und Absicht/Wesen
so verkürzt, aber vermutlicherweise folgenreich, beschrieben wurden.
Wie ich versucht habe kurz anzudeuten, gibt es wesentliche Unterschiede in den Zuschreibungsmöglichkeiten weiteren Erlebens und Handelns im Bezug auf die Handlungen dieser dritten Person, je nachdem welche Unterscheidung sich durchsetzt.
Es bleibt aber (wohl aus verständlichen Gründen) hier der dritten Person zu wünschen, das sich in diesem Fall die Unterscheidung der Kassiererin 1 durchplausibilisiert.