"Merkmale des Biedermeier. Typisch für die Biedermeier Epoche ist der Rückzug ins eigene Heim. Die Literatur dieser Zeit setzte den realen Verhältnissen eine idyllische, heile Welt entgegen und erklärte Häuslichkeit und Geselligkeit zum höchsten Gut." https://studyflix.de/deutsch/biedermeier-epoche-3560
Man könnte auf die Idee kommen, dass der Rückzug in die eigenen vier Wände, also ein Rückzug aus realen sozialen Verhältnissen, dazu führt, dass die Notwendigkeit einer gewissen Ambiguitätstoleranz im Umgang mit anderen Menschen so stark verdrängt werden kann, dass in der Folge gern überidealisiert und moralisiert wird. In der Übersichtlichkeit des Eigenheims kann Einheitlichkeit in der Gruppe als vermeintlicher gesellschaftlicher Mindeststandard impliziert werden. Nach dem Motto: Nur wenn alle (oder mindestens Vaddi) sich einig sind, kann etwas Vernünftiges herauskommen.
Im solchen Situstionen steigt das Bedürfnis Gruppenzugehörigkeit an Oberflächlichkeiten festzumachen, um vermeindlich Konflikte entschärfen zu können. Man kann dann leicht Gruppen identifizieren, denen man die Schuld am Nicht-Konsens geben kann, und geht gegen diese vor. Man verdrängt die Unwahrscheinlichkeit des Konsens, hält sie für Bedingung der Möglichkeit und muss dann nur noch anders denkende finden, denen man die Schuld geben kann.
Im Kopfkino in den eigenen vier Wänden erscheint alles sehr einfach. Es gibt auch keinen Widerstand, den man nicht Gruppen zuschreiben kann, die man ja sowieso für den Nicht-Konsens verantwortlich macht und so ja auch schon als Ursache von Problemen ausgemacht hat.
Die Idee drängt sich auf, dass ein Rückzugs in die eigenen vier Wände zu Übervereinfachungen und Überidealisierungen führt. Dies wiederum drängt im realen Kontakt mit anderen schnell zu zuspitzender und moralisierender Kommunikation, was dann oft Enttäuschungen provoziert. Dies wiederum fördert den Rückzug, und so weiter.
Der Rückzug in die eigenen vier Wände, den wir gesellschaftlich in den letzten 30 Jahren beobachten, ist motiviert durch Bildschirme, vor denen man fasziniert seine Zeit verbringen kann. Diese ermöglichen es technisch, soziale Interaktion durch parasoziale Interaktionen mit dem Bildschirm zu ersetzen und sich quasi überall und spontan "in die eigenen vier Wände" zurückzuziehen.
Die Filterbubble ist nicht mehr, wie im Biedermeier, die Familie Zuhause, sondern die Kommunikationszusammenhänge auf dem Bildschirm. Mit diesen verbringen die meisten Menschen real sehr viel mehr Zeit als mit konkreten Menschen. Die Pointe ist: Im Grunde kann man so die Notwendigkeit einer gewissen Ambiguitätstoleranz mindestens genauso gut verdrängen. Man tendiert dann folglich zu Idealisierungen und moralisierenden Entweder-Oder-Zuspitzungen, bzw. überschätzt die Einheitlichkeit und den Konsens. Dies verstärkt den Eindruck, dass das Vorgehen gegen anders denkende Lösungen von gesellschaftlichen Problemen bringen kann.
In diesem Sinne sind wir vielleicht nach knapp 20 Jahren Social Media und dem damit verbundenen Rückzug aus realen sozialen Situationen zeitgeistmäßig in eine Art aggressiv moralisierenden Neo-Biedermeier-Phase gerutscht.