Dienstag, 12. Juli 2011

Sozialpsychologische Anmerkungen zum Thema Realname-Policy

Für uns alle ist es selbstverständlich, dass wir in unterschiedlichen Lebenslagen unterschiedlich reagieren. Es mag Zeiten gegeben haben, in denen es genügte im wesentlichen eine soziale Rolle einzunehmen und damit seiner Umwelt gegenüberzutreten. Fakt ist, dass jeder Mensch heute im Laufe seines Lebens, ja im Laufe eines Tages unterschiedliche Rollen einnimmt, verschiedene Persona (im Sinne von Maske) als Ansprechstation zur Verfügung stellt. Als Student gegenüber dem Professor, in einer Lehrer/Schüler-Situation, bedienen wir völlig andere Erwarungen unseres Gegenübers, als z.B. in einer Vater/Kind-Situation gegenüber der eigenen Töchter. Und so gibt es viele Unterschiedliche Rollen in unserem Leben und wir sind für unterschiedliche Menschen, die uns gegenüberstehen letztlich völlig unterschiedliche Personen. Das ist eine triviale Selbstverständlichkeit.

Eine Konsequenz ist, das wir die Menschen in unserer Umgebung nicht mehr eindeutung, quasi objektiv, mit Eigenschaften belegen können, die jeder gleich beobachten kann. Natürlich destilliert man, gerade in der Psychologie und Soziologie, bestimmte Regelmäßigkeiten statistisch aus dem allgemeinen Verhalten und Erleben der Menschen. Aber letztlich werden dabei nur die Ergebnisse eines Generalisierungsprozesses mit Bezeichnungen versehen (z.B. Big Five), die es dann ermöglichen das Gleiche im Verschiedenen zu beobachten. Das ist zwar eine nicht zu unterschätzende Methode, dennoch neigt sie dazu die Aufmerksamkeit auf “das Gleiche” als Ausgangspunkt zu lenken und sie unterschlägt dabei ein bischn, die Unterschiede und das unter Umständen Unterschiede der Ausgangspunkt in der konkreten Situation sind. Triviale Selbstverständlichkeiten, wie die oben genannte, werden dann eigentlich nur mit einer Sekundärerklärung versehen, die eher die Methode des Generalisierens stützt, als das sie plausibel etwas konkretes erklären würde.

Der klassischen Theorie folgend, wird von einem Menschen als ein klassisches Subjekt bestimmtes erwartet. Man geht z.B. im Prinzip davon aus, dass ein Subjekt in seinem Inneren nur für sich selbst Platz hat und das es herausguckt in eine Welt, die mit anderen gefüllt ist und das in einem Prozess der Informationsübertragung Informationen von aussen nach innen gelangen. Und was so ein anständiges klassisches Subjekt ist, das unterstellt entsprechendes auch für andere. So kann es dann so tun als ob es den anderen als Einheit auf objektive Weise wahr, bzw. falsch beobachten kann; wie z.B. einen Stein. Und diese klassische Vorstellung über ein Subjekt, die mehr in der öffentlichen Meinung, als in der Wissenschaft selbst relevant ist, ist ein grosses Problem im Umgang von Menschen mit Menschen. Das kann ich hier leider nur andeuten.

Die gern pro forma zur Kenntnis genommene, aber wenig wirklich gedanklich berücksichtigte moderne biologische, soziologisch und psychologische Forschung geht aber weitgehend von einem anderen Modell aus. Dort wird davon ausgegangen, dass z.B. das Gehirn ein System ist, dass nur Zugriff auf sich selber und seine Veränderungen hat. Dort wird unterstellt, dass jedes Bewusstsein intern erst konstruieren muss, was es erlebt. Und so sehen wir andere nicht direkt (schon garnicht deren interne Prozesse), sondern wir projizieren unsere Lernerfahrung und unsere Erwartungen in die Welt und stülpen dem anderen ein “so-sein” einfach über (das wir dann ggf. durch lernen verändern können).

Wenn man so verschiedenen Wissenschaftlern wie Gregory Bateson (Schismogenese), Niklas Luhmann (doppelte Kontingenz) oder C.G. Jung (Persona/Anima) folgt, dann differenzieren sich in einem Bewusstsein Personen als "Erwartungskollagen" während eines kommunikativen Prozesses als eine Art situativer Ansprechstation. Diese Ansprechstation lernt aus seiner Geschichte mit Anderen, dass es sich von diesen Unterscheidet, dass sie eine Person ist und behandelt sich selber schließlich auch als eine solche.


Personen sind Erwartungskollagen mit denen wir uns Orientieren
Die moderne Soziologie z.B. löst den Begriff der Person so wie ihn der Alltag kennt auf, um ihn dann zu generalisieren als “[...] soziale Identifikation eines Komplexes von Erwartungen [...]” (Luhmann, N. (1987) Soziale Systeme, S.286). Weiter geht sie davon aus, dass letztlich alle sozialen Strukturen Verhaltenserwartungen sind und als Wissenschaft interessiert sie sich dann für die soziale Konditionierung der Erwartung des Verhaltens. Dazu Niklas Luhmann: “Was als Person sichtbar ist, ist eigentlich nur eine Erwartungskollage: das, was man notfalls und normalerweise zusammenhält, wenn man mit anderen zu tun hat.” (Luhmann, N. (1985) Die Soziologie und der Mensch; in: Luhmann, N. (2005) Soziologische Aufklärung, Band 6, S.255)

Konsequenterweise geht die Theorie auch davon aus, dass Welt-Erleben überhaupt erst auf die Wahrnehmung eines anderen als autonomen anderen zurückzuführen ist. Dazu ein kleines Gedankenexperiment: Man stelle sich ein Wesen auf einem anderen Planeten vor, dass, aus welchen Gründen immer, immer alleine war und nie einen anderen gesehen hat, dem es, wie sich selbst, ein eigenes Erleben und Handeln hätte zuschreiben müssen. Für dieses Wesen ist die Welt schlicht so wie es die Welt wahrnimmt, Punkt. Erst wenn man ein zweites Wesen hinzudenkt, wird klar worauf ich hinaus möchte. Wenn Wesen 1 nun die Welt wahrnimmt und entsprechend eine Aussage darüber formuliert, kann Wesen 2 sagen: “Hey Wesen 1, Du liegst falsch in Deiner Aussage, ich sehe das so und so”. Wesen 2 kann also die Aussage von Wesen 1 negieren und es eines besseren belehren (oder auch nicht). Und letztlich: Erst, wenn man sieht, das andere, anderes sehen, kann man überhaupt auf die Idee kommen von einer Welt zu sprechen, die auch für andere gilt. Vorher ergibt sich das Problem sozusagen nicht. (vgl. Luhmann, N. (2005) Soziologische Aufklärung, Band 5, S. 220ff).
Über die Sozialität werden die Bewusstseine sozusagen von einem rein positiven Erleben befreit und es entsteht ein Spielraum für Entscheidungen. Auf einmal ist eben nicht nur Wirkliches, sondern auch Mögliches und Negatives denkbar und abzuwägen. Wenn man so will provoziert, dass zwar erst den Sündenfall: Adam kann sich jetzt von Eva überzeugen lassen, was vorher schlecht möglich war, aber es bereichert auch das Erleben und Handeln der Beteiligten mit Mehrdeutigkeiten und Unsicherheiten und nötigt diesen so Entscheidungen ab, sich für das eine und gegen etwas anderes zu entscheiden. Die sich ständig neu reproduzierende Vielfalt von Möglichkeiten, die sich daraus ergibt wird kommunikativ bearbeitet. (vgl. Luhmann, N. (1987) Soziale Systeme, S. 93) Und eine psychische Form der Beteiligung an dieser kommunikativen Bearbeitung von Erwartungen ist die Konstruktion einer Unterscheidung die C.G. Jung als Persona/Anima bezeichnet hat(vgl. etwas weiter unten).

Die Erfahrung des personalen Ich, als Komplex bestimmter Erwartungen und Erwartungserwartungen, die man dann schließlich auch an sich selbst richten kann, wird sozusagen erst im Kontrast zu anderen Ichs gewonnen und kann der weiteren Orientierung dienen. Und, um den Bogen zurück zu bekommen, man kann ganz einfach sagen: Eine Gesellschaft in der ein Mensch z.B. nur Bauer, Vater und Ehemann war, war weniger differenziert als eine Gesellschaft in der ein Mensch Ehemann, Finanzbeamter, Parteimitglied, Kegelklubmitglied, Elternsprecher, Nebenjobber usw in einem ist.

Und so hängt es auch von der Differenziertheit der Kommunikation/Gesellschaft ab, wieviele Persona einem Menschen zugestanden werden können, bzw. als wieviele dieser handeln kann, um sich in verschiedenen Situationen zu orientieren und sich selbst zu entwickeln. Im Alltagsdenken ist noch alles an einen Realnamen geknüpft, hinter dem ein einzelner Mensch steht auf den seine Mitteilungen zurückgeführt werden können. Unter solchen Bedingungen muss ein Mensch dann darauf achten, dass er für seine nahe (!) Umwelt einigermaßen erwartbar, glaubwürdig und als Person konsistent wahrnehmbar ist, damit er in bestimmte Kommunikationen überhaupt weiter eingebunden werden kann. Viele Menschen, insbesondere Künstler, oder Menschen, die viel Veröffentlichten, haben das seit jeher als unnötige Einschränkung erfahren und sich zwecks Veröffentlichung von Werken Pseudonyme gegeben. Eben damit es nicht zu unnötigen Irritationen kommt und man sich die Freunde im Kegelklub vergrauelt, weil man bestimmte Positionen sehr poientiert vertritt, deren Plausibilisierung im Rahmen eines Kegelklubs nicht angebracht ist, und weil es auch einen Privatbereich gibt in dem man unter Umstaänden auch das Bedürfnis hat sich ausgedehnt auszudrücken.

Ein Pseudonym verwenden heisst ja nicht, wild rumpöbeln und herum zu trollen, weil man ja anonym ist, sondern der Sinn eines Psyeudonyms ist doch, dass man sich eine Art Firewall um die Privatsphäre zieht damit man nicht jede Aussage die man trifft vor prinzipiell jedem rechtfertigen muss, oder immer damit rechnen muss, dass andere eine bestimmte Aussage gelesen haben, die man irgendwann mal gepostet hat. Das würde zu einer massiven Überforderung führen, der man dann im Netz nur aus dem weg gehen kann, indem man nur noch veröffentlicht, was wohl den Geschmack derjenigen trifft mit denen man es sich nicht vergraueln will, oder man veröffentlicht garnicht.

In diesem Sinne ist eine Realname-Policy eine Form der Einschränkung von Ausdrucksverhalten, die in Zeiten des Netzes nicht mehr hinnehmbar ist. Eine Realname-Policy in den sozial wirklich bedeutenden Netzwerken geht meiner Ansicht nach zu weit, weil sie den Usern unnötig Ausdrucksmöglichkeiten nimmt. Sie nimmt den Usern, was selbst die Personalausweisidentifizierung hergibt, ein Pseudonym verwenden zu dürfen und damit bestimmte Facetten seiner Lebenswelt poentiert Ausdruck zu verleihen. Das Argument, dass man mit einer Realname-Policy gegen Spam und Trolle vorgeht, halte ich für vorgeschoben. Das nachvollziehbare Interesse das ich hinter der Realname-Policy bei den Betreibern sozialer Netzwerke sehe ist, dass diese die Qualität ihrer personenbezogenen Daten erhöhen wollen. Verständlich, aber ja nicht unbedingt sinnvoll.

Auf der einen Seite schaffen die sozialen Netzwerke ein System in dem Lebens- und Meinungsäusserungen, bzw. Kommunikationen weltweit veröffentlicht und verbreitet werden können. Auf der anderen Seite drängt eine Realname-Policy, die Autoren in die Grenzen der sozialen Erwüschntheit ihrer eigenen Umgebung. Bei einer Realname-Policy erfahren ja nicht nur chinesische Dissidenten Nachteile, sondern jeder kann erstmal überlegen, ob eine entsprechende politische Äusserung im Netz (die er irgendwann einmal gemacht hat) ihm nicht evtl Probleme bei der Arbeit, im Kegelklub oder sonstwo einbringen kann. Eventuell wird die falsche politische Meinung im Netz das neue Partykotzfoto, mit ähnlichen Konsequenzen für die Betroffenen. Und was das für die politische Kultur bedeutet, wenn gerade dieses Medium keine (oder nur eingeschränkt) Pseudonyme erlaubt. Diese Konsequenz ist glaube ich noch nicht richtig durchdacht. Deswegen kann die öffentliche Diskussion auch so stumpf argumentieren mit: Realname = alles ganz ehrlich und bedacht und Pseudonym = anonym und eigentlich nur zum trollen und pöbeln gut.

Jeder der twittert (und jeder Autor sowieso) kann sich aber wahrscheinlich vorstellen, dass ein Pseudonym nützlich dafür ist eine Kunstfigur zu erzeugen, mit der man sich dann nicht weniger Mühe gibt, als mit dem eigenen Realnamen und dass sowas eine Bereicherung der Ausdrucksmöglichkeiten mit sich bringt. Und je mehr soziale Netze benutzt werden, umso mehr wird ein weniger künstlerischer als demokratischer, rechtsstaatlicher, menschlicher Gebrauch von Pseudonymen im Netz wichtig werden. Wenn ich das nächste mal einen Perso beantrage, werde ich mir z.B. mein Pseudonym dort eintragen lassen. Ich habe kein Problem damit, dass ein Rechtsstaat ein paar personenbezogene Daten von mir hat. Das ist verwaltungsmäßig einfach sinnvoll. Ich will nur nicht durch jedes x beliebige Dataminingsystem mit Klarnamen erfassbar sein.


Politische Äusserungen werden die neuen Partykotzfoto
So unterscheidet C.G. Jung z.B. Persona, die äußere Persönlichkeit im Gegensatz zur Anima, der inneren Persönlichkeit (vgl. z.B. Wikipedia http://de.wikipedia.org/wiki/Persona )

Und ich würde hier behaupten, dass die genannte Überforderung bei der Kontrolle der Selbstdarstellung, dazu führt, dass die Anima im Sinne einer weit differenzierten Persönlichkeit verkümmert, bzw. unterfordert bleibt. Es gehen Ausdruckmöglichkeiten verloren, wenn immer soziale Konsequenzen des irgendwann mal Geäusserten mitgedacht werden müssen. Das Netz vergisst eben nicht. Die Zeiten in denen jede Äusserung noch entweder mündlich getätigt und damit alleine verhallt ist, oder schriftlich fixiert wurde und nur einer kleinen Leserzahl zugänglich war, sind vorbei. Heute, wenn man eine Äusserung im Netz veröffentlicht, ist diese prinzipiell für jeden und für wasweissichwielange sichtbar und muss prinzipiell gerechtfertigt werden. Insbesondere politische Äusserungen, mit denen man es bekanntlich nie jedem Recht machen kann werden zum Problem. Pseudonyme sind in diesem Sinne auch ein Schutz, weil sie eine Distanz zum Gesagten ermöglichen. Sie ermöglichen so eine Form von öffentlicher Privatheit, die sonst nur in einem engen vertrauten privaten Kreis, entstehen kann, in dem jeder weiß wie es gemeint war und in dem man sich auch mal weiter aus dem Fenster lehnen kann, ohne sofort mißverstanden zu werden und ohne das einem ein einzelnes Statement für Ewigkeiten anhängt, weil man z.B. bei Google damit gefunden wird. Es wird mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Problem, bzw. erzeugt eine Sackgasse in der Persönlichkeitsentwicklung, wenn man immer wieder mit einmal getätigten Aussagen identifiziert und auf diese zurückgeworfen wird.


Dataming, Realnem-Policy und die Qualität personenbezogener Daten
Neben dem eben weit ausgebreiteten eher soziologischen, bzw. sozialpsychologischen Aspekten einer Realname-Policy habe ich hier die rechtsstaatlichen, bzw. Kundenschutzorientierten Probleme stark unterbelichtet. Das soll nur nicht dazu verleiten, diese als weniger bedeutend anzusehen. Der Text geht hier sowieso in einer für diesen Blog gewohnt zu lässigen Art mit schwierigen Problemen um.

Wir dürfen ja nicht naiv sein und die Augen davor verschließen, dass schon längst Datamining Systeme Personendaten gezielt von verschiedenen Plattformen automatisiert zusammentragen und so unglaublich genaue Personen- und Beziehungsprofile erstellt werden können. Ohne große Fantasie kann man sich z.B. vorstellen, dass öffentliche Profilseiten ohne großes Problem von quasi jedem als Basis für eine Gesichtserkennungsoftware genutzt werden können (siehe z.B. hier)

Bei der Verwendung von Pseudonymen verlieren aber personenbezogene Daten einen Grossteil ihres Wertes, weil sie nicht ohne grossen Aufwand spezifischen Menschen zugeordnet werden können. Wenn man das Netz als riesige Halte von Mitteilungen auffasst, die natürlich sehr konkretes über die jeweils Mitteilenden preisgibt, dann kann man sich auch leicht vorstellen, wie sehr solche qualitativ hochwertigen Personenbezogenen Informationen begehrt sind. Es gibt eigentlich wenig Gründe dafür, dass mehr Instanzen als der Zugansprovider und der Webdienst, den wir verwenden uns lokalisieren und entpseudonymisieren können sollen (wenn wir es nicht explizit anders möchten).

Es bleibt nur zu sagen: Menschen zu manipulieren, heisst personenbezogene Informtionen zu verwenden. Wenn ich weiß, welche Bücher jemand oder eine Population bevorzugt, kann ich ihn, bzw sie schnell von etwas überzeugen, wenn ich weiß vor was jemand Angst hat, dann kann ich das politisch, medial oder sonstwie nutzen, usw. Kaufempfehlungen sind mir erstmal scheißegal, das ist ja noch OK. Die erfüllen ihren Zweck auch, wenn ich nicht mit Klarnamen eingelogged bin.

Meine Kritik ist, dass selbst die Kritik, die in diese Richtung geht, oft nicht konsequent genug mitdenkt. Dass personen- bzw. populationsbezogene Daten der heilige Gral der Macht sind, das ist und bleibt trivial, wird aber vielleicht gerade deshalb so beunruhigend verdrängt.