Sonntag, 12. Juni 2011

Axiome einer Theorie autopoietischer Systeme

Folgenden Text habe ich im Jahr 2006 im Rahmen einer grösseren Arbeit geschrieben. Der hier editierte Beitrag scheint mir jedoch immernoch auch alleinstehend interessant (zumindest für die, die sich für die Theorie interessieren). Ich hoffe er hilft einen Einstieg in die Theorie autopoietischer Systeme, bzw. den Zugang zu manchen Beiträgen dieses Blogs zu erleichtern. Das zumindest ist der Grund, weshalb ich den Text hier nochmal anbieten möchte.


Zur Begriffsgeschichte Kybernetik, Information, Selbstorganisation, Autopoiesis

Die Theorie autopoietischer Systeme hat sich im wesentlichen auf der Grundlage, der, in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts entstehenden, Kybernetik entwickelt. Die Ideen, die in diesem Zusammenhang von Gregory Bateson, Heinz von Foerster, William Ross Ashby und vielen anderen entwickelt wurden, haben die moderne Systemtheorie in gewisser Weise erst ermöglicht. Was man heute zum Thema autopoietische, bzw. selbstorganisierte Systeme findet, das ist hauptsächlich von diesen interdisziplinären Konzepten abgeleitet. Formal wird Kybernetik beschieben als Wissenschaft der kreiskausal geschlossenen Rückkopplungsmechanismen in technischen, biologischen, psychischen und sozialen Systemen.

Aktualität gewann der Ansatz, als die Gründerväter der Kybernetik begannen über informationale Offenheit, bei gleichzeitiger operationaler Geschlossenheit der Systeme nachzudenken und dabei diese Idee in den Mittelpunkt erkenntnistheoretischer Bemühungen stellten. (vgl. Foerster, H. v. (1993). KybernEthik.; vgl. Rotermund, H. (2003).Wir sehen nicht das wir nicht sehen)

Gregory Bateson entwickelte daraufhin einen passenden Informationsbegriff, der den Weg dafür frei machte Information ganz generell zu bezeichnen, als einen Unterschied, der einen Unterschied macht (vgl. Bateson, G. (1987). Geist und Natur, S. 123). In klassischer Lesart formulierte er so eine Paradoxie, die sich nur über die Fokussierung auf Perspektive und Zeit entfalten lässt. Also „wer“oder „was“macht einen Unterschied und erzeugt daraufhin einen weiteren Unterschied. In diesem Konzept läuft ein Unterschied sozusagen auf einen anderen Unterschied auf und erzeugt dabei einen weiteren Unterschied; Information. (vgl. Bateson, G. (1987). Geist und Natur.)

So entwickelten sich langsam Unterscheidungstheorien, die nicht mehr hinter diesen Informationsbegriff von Bateson zurückfielen, sondern diese einschränkende Formulierung aufgegriffen und variiert haben. Man kann wohl mit recht sagen, das Gregory Bateson mit seiner Definition von Information den Grundstein einer kybernetischen Informations– und Unterscheidungstheorie gelegt hat.

Im Duktus dieser Informationsdefinition formulieren Humberto Maturana und Niklas Luhmann schliesslich, in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts, ihre Ansätze zu einer Theorie sich selbst erzeugender, also autopoietischer Systeme (Luhmann, N. (1987). Soziale Systeme; Maturana, H. R., & Varela, F. J. (1984). Der Baum der Erkenntnis). Passend zu der Idee von Gregory Bateson, das der Geist als kreiskausales System mit Unterscheidungen arbeitet, wird hier ein Systembegriff in einem zirkulären Argument formuliert. Ein autopoietisches System ist hier ein System, das die Strukturen, bzw. Elemente aus denen es besteht, aus eben diesen Elementen, selbst erzeugt (vgl. Luhmann, N. (1999). Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 65). Bei Luhmann heißt es dann:

„Die Elemente (und zeitlich gesehen sind das Operationen), aus denen autopoietische Systeme bestehen, haben keine unabhängige Existenz. Sie kommen nicht bloß zusammen. Sie werden nicht bloß verbunden. Sie werden vielmehr im System erst erzeugt, und zwar dadurch, dass sie (auf welcher Energie- und Materialbasis immer) als Unterschiede in Anspruch genommen werden. Elemente sind Informationen, sind Unterschiede, die im System einen Unterschied machen. Und insofern sind es Einheiten der Verwendung zur Produktion weiterer Einheiten der Verwendung, für die es in der Umwelt des Systems keinerlei Entsprechung gibt.“ (Luhmann, N. (1999). Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 65 f)

So wird ein System verstanden als ein quasi–perpetueller Zusammenhang von Operationen, der durch seine Operationen laufend Unterschiede erzeugt und dadurch das System von einer Umwelt abgrenzt. Die Umwelt trägt und malträtiert das System, aber es gibt keine Verbindung zwischen System und Umwelt auf der Ebene der Operationen. In diesem “neo–batesonschen“Sinne sind autopoetische Systeme informationserzeugend. Sie erzeugen in ihren Operationen systemrelative Information.

Die Kybernetik stellt sich einen solchen re–produktiven Zusammenhang beispielhaft als einen iterativen Prozess vor (vgl. Foerster, H. v. (1993). Wissen und Gewissen, S. 269-281). Der Begriff Iteration stammt aus der Mathematik und bezeichnet eine Funktion deren Ergebnis immer wieder eben diese Funktion durchläuft und daraufhin Werte erzeugt, sogenannte Eigenwerte. Und wenn man so will sind autopoietische Systeme mit iterativen Prozessen zu vergleichen, weil ihr Produkt die Elemente sind aus denen sich wiederum anschließende Elemente reproduzieren. In der Mathematik kann man leicht erkennen, das solche iterativen Prozesse drei wesentlich unterscheidbare Resultate erzeugen können.

1. Es entsteht ein fester Eigenwert unabhängig vom Ausgangswert ( wie z. B. bei einer Wurzelfunktion).
2. Werte wechseln vorhersehbar regelhaft (wie z. B. bei einer Periode).
3. Werte wechseln unregelmäßig oder unvorhersehbar (wie z. B. bei Pi).

Es ist eine Binsenweisheit in der Mathematik, dass iterative Funktionen, graphisch dargestellt, alle nur denkbaren Formen hervorbringen können. Und das Erstaunliche: Das ist möglich mit nur einer Funktion, die immer wieder auf sich selbst angewendet wird. Es ist also möglich aus einer einfachen Funktion hochkomplizierte Muster zu erzeugen. So kann man sich vorstellen, können auch autopoietische Systeme, in ihren kreiskausal organisierten Operationen, alle möglichen Formen von linearen und nicht–linearen Dynamiken entwickeln. In diesem Sinne unterscheidet die Theorie autopoietischer Systeme, die Systeme nach ihrer „iterativen“ Reproduktions–Operation. Sie unterscheidet z. B. biologische Systeme (Proteinsynthese), Bewusstseinssysteme (Reproduktion von Gedanken) und soziale Systeme (Reproduktion von Kommunikationen) und geht dabei von einer Koevolution dieser drei Systemtypen aus (Luhmann, N. (1999). Die Gesellschaft der Gesellschaft).


Axiome einer allgemeinen Theorie autopoietischer Systeme

Die Basisaussage ist: „Es gibt autopoietische Systeme.“und zwar nicht nur als bloße Verstandeskonstrukte, sondern es gibt Systeme da draußen, die autopoietisch organisiert sind (vgl. Luhmann, Soziale Systeme, 1987, S.30). Das betrifft in der allgemeinen Theorie autopoietischer Systeme – wie gesagt – ganz konkret biologische, psychische und soziale Systeme, die so unterschieden werden. (vgl. Luhmann, Soziale Systeme, 1987: S.15 f)

Dann stellt sich natürlich eine Frage: Wie kann man sich ein autopoietisches System vorstellen? Eine Antwort versuche ich nun dadurch verständlich zu machen, dass ich die fundamentalen erkenntnistheoretischen Annahmen, die hinter dieser Theorie stehen, in ein prägnantes axiomatisches Gerüst zwänge.

Es ist hier nochmal zu betonen, dass die im folgenden beschriebenen Axiome autopoietischer Systeme für psychische, soziale und biologische Systeme gleichermassen in Anspruch genommen werden. Es geht hier also zunächst nicht um irgendein materielles Substrat, oder um bestimmte Systemelemente, um einen spezifischen iterativen Reproduktionstyp, sondern es geht um die Bezeichnung von konkreten Besonderheiten der Organisation von autopoietischen Systemen.

In gewisser Weise kann man sagen, dass die hier folgenden Axiome die wesentlichen Vorannahmen der Theorie autopoietischer Systeme sind. Vorannahmen, die die Bedingungen der Möglichkeit von Systemen einschränken, bzw. problematisieren. Niklas Luhmann (den ich hier ausgiebig in Anspruch nehme) hat das meines Wissens zwar nirgendwo direkt so explizit zusammengefasst und er hätte sich sicherlich gegen den Begriff Axiome gewehrt (vgl. Luhmann, N. (2005). Soziologische Aufklärung 3, S.41 f), aber diese Vorannahmen kommen in fast allen seinen Texten mindestens implizit (fast als Bedingung des Verstehens) vor und ich erlaube mir deshalb den Kunstgriff hier von Axiomen zu sprechen.


Axiom 1: Autopoietische Systeme sind unruhige Systeme
Wie ich bereits im Vorwort angedeutet habe sind autopoietische Systeme kreiskausal organisiert und re-produzieren ihre Elemente aus einem Netzwerk eben solcher Elemente (Maturana, H. R., & Varela, F. J. (1984). Der Baum der Erkenntnis.) Das heisst in der Kurzform: A produziert B und darauf hin produziert B wieder A usw. Der Clou ist hier, dass die Elemente (A und B) flüchtige Elemente sind. Sie verschwinden also mit der Zeit. Es gibt keine Systemelemente, die ohne den operativen Zusammenhang mit anderen Elementen einfach so existieren. Nur der kontinuierliche re-produktive Zusammenhang der Elemente erzeugt die Kontinuität des Systems. Nur der ständige Anschluss von Operation an Operation gewährleistet so etwas wie Systemgrenzen. Das verursacht im System Anschlussdruck (Taktung) (vgl. Luhmann, N. (1999). Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 65f.).

Kurz, wenn diese Operationen der Reproduktion erliegen, dann löst sich das System auf, es verliert seine Grenzen. So driftet das System als dynamischer Prozess (ohne statische Identität) in der Welt (Maturana, H. R., & Varela, F. J. (1984). Der Baum der Erkenntnis.). Es ist inhärent unruhig.


Axiom 2: Autopoietische Systeme sind operational geschlossen
Außerhalb des operativen Zusammenhanges gibt es also keine Systemelemente. Systeme entwickeln die Differenz zu ihrer Umwelt im Anschluss von Operationen an Operationen. Der Begriff operationale Geschlossenheit betont dabei die Tatsache, dass die Formen, die ein System in seiner Umwelt entwickeln kann von der Organisation der Selbstreproduktion und nicht direkt von der Umwelt abhängen (vgl. Ashby, W. R. (1974). Einführung in die Kybernetik; Maturana, H. R. (1998). Biologie der Realität).

So ist die Form von Information im System immer eine systeminterne Form der Unterscheidung von Unterschieden in der eigenen Strukturdynamik. Das bedeutet, dass ein System zwar von aussen irritiert werden kann, aber die Form der Unterschiede, die daraufhin im System erzeugt werden können, hängt von der Strukturdynamik des re-produktiven Prozesses ab und nicht direkt von der Umwelt.

Für ein autopoietisches System bedeutet das z. B., dass es die Unterscheidung von System und Umwelt immer innen, also im System vollzieht (wo sonst) (vgl. Luhmann, N. (1999). Die Gesellschaft der Gesellschaft., S. 92 f). Schon deshalb kann ein System sich nicht selbst und schon gar nicht seine Umwelt vollständig beobachten (vgl. Luhmann, N. (1993). Theorie der Gesellschaft, Tape 13). Festzuhalten bleibt, Systeme gewinnen ihre Form aus der strukturellen Dynamik der Organisation ihrer eigenen Operationsweisen. Interessant in diesem Zusammenhang ist die Frage nach der Irritierbarkeit eines Systems, das nur innerhalb der eigenen Grenzen operieren kann. Luhmann geht davon aus, dass die Grenzen des Systems nicht als Abbruch von Zusammenhängen zu sehen sind (vgl.Luhmann, N. (1987). Soziale Systeme, S. 35 f).

„Man kann auch nicht generell behaupten, dass die internen Interdependenzen höher sind als System/Umwelt-Interdependenzen. Aber der Grenzbegriff besagt, dass grenzüberscheitende Prozesse (zum Beispiel des Energie- oder Informations-‚Austausch‘) beim Überschreiten der Grenze unter andere Bedingungen der Fortsetzung (zum Beispiel andere Bedingungen der Verwendbarkeit oder andere Bedingungen des Konsenses) gestellt werden.“ (vgl. Luhmann, N. (1987). Soziale Systeme, S. 35 f).

Die Theorie negiert damit nur die Möglichkeit einer systemunabhängigen Beobachtung (z. B. als Beobachtung von „Umwelt an sich“) und setzt zugleich Umwelt als operational unerreichbar (verschieden) voraus.

„Das System sucht mit anderen Worten Formen, mit denen es die eigene Autopoiesis zugleich als geschlossen (für eigene Operationen) und als offen (für Irritationen aus der Umwelt), als rekursiv und responsiv organisieren kann.“(Luhmann, N. (2001). Aufsätze und Reden, S. 145)


Axiom 3: Autopoietische Systeme unterliegen einem Komplexitätsgefälle
Durch die allgemeine Theorie autopoietischer Systeme wird ein weiteres wichtiges Axiom angezeigt. Ein System, das sich auf der Basis eigener Operationen ausdifferenziert und von seiner Umwelt unterscheidet, kann immer nur weniger Zustände annehmen als die Umwelt, in der das System sich verwirklicht. Die Umwelt (inkl. der Systeme in der Umwelt) bleibt immer komplexer als das System selbst. Ein System kann nicht alle Unterschiede der Umwelt in sich 1zu1 übernehmen, nicht jede Veränderung der Umwelt mit eigenen Änderungen parieren. Dieser Sachverhalt ist offensichtlich schwer zu bestreiten (vgl. Luhmann, N. (1992). Einführung in die Systemtheorie, Tape 8a).

Das Komplexitätsgefälle wird dann im System in der Form eines perspektivischen Weltentwurfes, der immer schon die äussereWelt reduziert, bearbeitet.

„Das System interpretiert die Welt selektiv und reduziert damit die Komplexität auf das ihm zugängliche Maß hin. Dadurch ermöglicht es sich strukturierte Möglichkeiten des eigenen Erlebens und Handelns.“(Asmus, 1999)

Ein autopoietisches System muss also selektiv operieren.

Fazit: Die Frage welchen Bedingungen der Möglichkeit autopoietische Systeme unterliegen lässt sich also verkürzt wie folgt beantworten. Ein System muss sich ständig in eigenen Operationen reproduzieren. Es produziert sich so in einer unruhigen Form, in einer Umwelt die stets mehr Zustände einnehmen kann als das System in eigenen Operationen auflösen kann. Ein System muss also prinzipiell selektiv operieren.