Freitag, 22. Februar 2013

Warum Ehen im Himmel geschlossen werden und im Auto auseinandergehen

Mit Niklas Luhmann kann man, wie allgemein bekannt, erstaunliches beobachten. Zum Beispiel folgendes:

Ein zentrales Folgeproblem der Ausdifferenzierung von Kommunikationssystemen, bzw. des steigenden Negationspotenzials einer solchen Ausdifferenzierung, besteht in der Zurechnung von Selektionsleistungen; wenn man so will in der Zurechnung von Beobachtungen. Also je elaborierter, je voraussetzungsreicher die Kommunikation, desto wahrscheinlicher ihre Nichtnachvollziehbarkeit und ihre Nichtabsehbarkeit, bzw. desto höher auch das Risiko auf eine andere, passendere Möglichkeit zu verzichten, und desto wahrscheinlicher eben ihre Ablehnung. Um differenzierte Kommunikation, differenzierte Gesellschaft nun trotzdem anschlusssfähig zu halten müssen sich Bewusstseinssysteme bestimmten Zuschreibungproblemen stellen. (vgl. Luhmann, N. (2001). Aufsätze und Reden. S. 40)

Luhmann: „In dem Maße als (und in den Themenbereichen, in denen) Kontingenz zunimmt, wird es notwendig, Selektionsleistungen zu verorten; man muß zumindest Adressen und Einwirkungspunkte ausfindig machen können, wenn schon nicht feststeht, was geschehen ist oder wird" (ebd.)

Ein grossartiger Vorschlag Luhmanns ist in diesem Zusammenhang nun davon auszugehen, dass Beobachter in zweierlei Hinsicht besonders weitreichende Zurechnungsschwerpunkte wählen können: Nämlich im eigenen oder fremden System, oder in der eigenen oder fremden Umwelt.

Luhmann: „Um Kurzbezeichnungen verfügbar zu haben, sollen Selektionsprozesse, die in diesem Sinne auf Systeme zugerechnet werden, handeln genannt werden und Selektionsprozesse, die auf Umwelten zugerechnet werden, erleben.“ (ebd.)

So kann man mit der Theorie unterscheiden, ob sich jemand an einer Kommunikation als Erlebender, als jemand der eine fremde Selektion nur übernimmt, oder ob sich jemand als Handelnder, als jemand der die Selektion selbst vollzieht, beteiligt. Und genau das ist dann die immer mitlaufende Frage: „Bringt sich jemand als Handelnder ein? “, also als jemand der Verantwortlich ist und dementsprechend zur Verantwortung gezogen werden kann. Oder teilt er mit, dass seine Entscheidung Konsequenz der Situation ist? Es schwingt immer diese zwei–Seiten–Struktur mit, also die Doppelung der Zurechnung nach Alter / Ego und handeln / erleben. (vgl. Luhmann, N. (1993). Theorie der Gesellschaft. Autobahnuni. Band 6b, ab 17:57 min)

Ein solches Schema wechselseitigen Beobachtens hin auf Erleben und Handeln, ist an sehr prominenter Stelle in der Theorie Luhmanns verankert. Nämlich genau an der Stelle an der man fragen kann: wodurch unterscheiden sich die Funktionssysteme der Gesellschaft? Antwort: Spezifische Zuschreibungsmuster von Handeln und Erleben der Beobachter in der Kommunikation tragen die Ausdifferenzierung der Funktionssysteme in der Gesellschaft. Diese Zuschreibungsmuster werden in der Theorie dann symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien genannt. Sie überbrücken letztlich die unüberbrückbare Differenz zwischen alter und ego, transzendieren diese quasi, in dem sie sich auf Merkmale der Beziehung zwischen Alter und Ego beziehen, die nicht wegvariiert werden können, ohne eine Einschränkung der doppelten Kontingenz, also Informationsgewinn, bzw. Berechenbarkeit aufzulösen und aufs Spiel zu setzen. (vgl. a.a.O.: Band 2a, ab 22:00 min). Die Unwahrscheinlichkeit des Anschlusses von Kommunikation an Kommunikation wird durch symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien wahrscheinlich. Zugespritzt und falsch in der Wortwahl, aber: Transzendenz durch Zuschreibung auf Zuschreibung, nicht durch Zuschreibung auf Welt. (vgl. Luhmann, N. (2001). Aufsätze und Reden. S. 40 -. A.a.O. findet man auch die überraschend schlichte und geniale Kreuztabelle).

Neben der Tatsache, dass diese Beobachtungen von Zuschreibungsmustern im Kern der Luhmannschen Gesellschaftstheorie stecken und in ihrer generellen Bedeutung diesbezüglich fast nicht überschätzt werden können; so gibt es doch zwei ganz zauberhafte Textstellen (ich muss das so sagen) in denen Luhmann nicht nur "grosse Gesellschaft", sondern ganz entzückend auch kleine Alltagsinteraktionen in diesem Muster der Zuschreibungsanalyse angeht. Alles bis hierher geschriebene könnt ihr betrachten als Einleitung, zu diesen beiden längeren Textpassagen, die ich in diesem Fall nicht einfach so raushauen wollte. Das erschien mir zu schade. Gerade weil man sie auch ohne diese Einleitung verstehen kann, aber vielleicht in Ihrer Bedeutung unterschätzt, wenn man nur so drüberfliegt. Naja, nun :)

"Auf Grund von (allerdings noch wenig gesicherten) empirischen Befunden kann man annehmen, daß die allgemeinen Attributionsdifferenzen zwischen Handelnden und Beobachtern sich auch und gerade in Intimbeziehungen festlegen lassen, obwohl hier die Position als Handelnder bzw. als Beobachter nahezu simultan auf beiden Seiten zu realisieren ist. Handelnde orientieren sich stärker an der Situation, Beobachter rechnen stärker auf Personmerkmale zu; und dies dürfte verstärkt für Beobachter gelten, die Vertrauen oder Liebe testen und wissen möchten, ob sie mit stabilen Haltungen auf der anderen Seite rechnen können.
So glaubt der Fahrer eines Wagens sich mit bestem Können nach der Situation zu richten. Der Mitfahrer beobachtet ihn, rechnet die Eigentümlichkeit der Fahrweise auf Personmerkmale zu und fühlt sich, wenn die Person ihm wichtig ist und er Rücksichtnahme erwarten zu können meint, veranlaßt, zu kommentieren und mitzuteilen, wie er selbst fahren würde bzw. gefahren werden möchte. Der Fahrer dagegen hat die Gründe seines Verhaltens jeweils schon hinter sich, hat sie, wenn überhaupt, im Kontext der Situation erlebt und sie gar nicht auf die Ebene seiner persönlichen Beziehungen zum Mitfahrer hochtransformiert. So werden Ehen im Himmel geschlossen, und im Auto gehen sie auseinander, weil es zu Attributionskonflikten kommt, die sich einer kommunikativen Behandlung weitgehend entziehent. Auch abgesehen von dieser Sonderproblematik ist die hohe Konfliktträchtigkeit von Intimbeziehungen bekannt. Man würde vielleicht erwarten, daß gerade hier Konflikte, die auf der Ebene des täglichen Verhaltens und der Rollenauffassungen entstehen, auf einer Metaebene der Kommunikation durch eine vorausgesetzte Interpenetration abgefangen werden können. Man weiß, daß die kleinen Streitigkeiten letztlich nicht zählen und daß es ein Verständigtsein gibt, das sich dadurch nicht erschüttern läßt. Genau diese Ebenendifferenz ist aber prekär und ständig gefährdet dadurch, daß die Partner das Verhalten der Person zurechnen und am Verhalten ablesen, ob die Person jene Haltungen (noch) durchhält, die die Beziehung trage." (Luhmann, N. (1987) Soziale Systeme, S. 308f)

Etwas anders formuliert, an anderer Stelle: "Die Ehen werden im Himmel geschlossen, im Auto gehen sie auseinander. Denn derjenige, der am Steuer sitzt, richtet sich nach der Situation und fährt, wie er meint, auf Grund seines besten Könnens; aber der, der mitfährt und ihn beobachtet, fühlt sich durch die Fahrweise behandelt, führt sie auf Eigenschaften des Fahrers zurück. Er kann nur in einer Weise handeln, nämlich kommentieren und kritisieren; und es ist wenig wahrscheinlich, daß er dabei die Zustimmung des Fahrers findet. Im Taxi hätte man (von Extremfällen abgesehen) wenig Anlaß, darüber zu kommunizieren. Bei Intimbeziehungen wird jedoch genau diese Situation zum Test auf die Frage: handelt er so, daß er meine (und nicht seine) Welt zu Grunde legt? Und wie könnte man davon absehen, bei Zweifeln den Versuch einer kommunikativen Klärung zu unternehmen, wenn man anderenfalls mit resigniertem Schweigen sich und dem anderen sagen würde, daß man den Test nicht riskiert?
Dies Beispiel mag uns als Leitfaden dienen auf der Suche nach Generalisierungen. Es lehrt zunächst, daß ein sehr hohes Maß an gemeinsamem und als gemeinsam gewußtem Situationswissen, also auch ein hohes Maß an kultureller Vorprägung vorausgesetzt werden muß, das weder mit Individualität noch mit Liebe etwas zu tun hat, aber sich dazu eignet, Nuancen des Verhaltens attibutionsfähig zu profilieren. (Er schneidet die Kurven, obwohl er weiß, daß ich das nicht mag; sie »fährt auf der Autobahn stur links«, obwohl sie weiß, wie pedantisch ich immer auf die Vorschriften achte.)" (Luhmann, N. (1994) Liebe als Passion, S.42f)

Ich lese diese Textstellen in grösseren Abständen immer mal wieder gern. Ich verstehe sie zwar mittlerweile irgendwie. Aber jedes mal wieder habe ich das Gefühl, dass es weitergeht als ich es vorher gesehen habe und weiter geht als ich differenziert einordnen kann. Das fasziniert mich so an diesen Stellen. (auch hier)