Dienstag, 25. Oktober 2011

Vom Ideal zur Veränderung als Reflexionswert. Oder: Der Versuch einer semantischen Spitzfindigkeit auf die Schliche zu kommen

Es geht ja nicht mehr darum sich Existenz, einer klassischen Vorstellung folgend, als etwas stabiles vorzustellen. Als etwas, das, kontinuierlich bedroht von empfindlicher Derangierung durch Welt, aber, im Grunde idealtypisch quasi als statisch, als in sich vollständig, als perfekt gedacht oder beschrieben werden kann. Veränderungen erscheinen so per se erstmal als ein Abweichen vom Idealzustand, das zwar abgefangen werden kann, aber der Reflexionswert eines solchen Denkansatzes ist und bleibt erstmal recht eindimensional der Idealzustand (nicht die Veränderung). Man kann einen solchen Denkansatz auch erweitern, so dass es fast den Eindruck macht, als rücke die Veränderung ins Reflexionszentrum. Man kann sich z.B. entsprechend die Unterscheidung Ordung/Unordnung zurechtlegen und sich zwischen System und Umwelt eine Art Fließgleichgewicht der Veränderungen vorstellen. Man würde so ein Auf- und Abbau von Ordnung, bzw. Unordnung jeweils auf Seiten des Systems und der Umwelt, als in bestimmten Veränderungsgrenzen "Stabil in der Veränderung" beschreiben können. So eine Semantik beansprucht schon die Paradoxie von Stabilität/Veränderung als notwendig, legt aber, im Bilde des Fliessgleichgewichtes erkennbar, immer noch den Ausgangspunkt, den Reflexionswert auf Stabilität (Stabilität trotz Veränderung), auf Harmonie. Anders wird das Ende des letzten Jahrhunderts. Veränderungen werden, erst im Kleinen, dann im Grossen, als Reflexionswert in Anspruch genommen, wenn, wie z.B. von Manfred Eigen (1976), betont wird, dass z.B. ein Organismus nicht einfach eine Koordiniertheit von Proteinen ist, die sich wohl oder übel verändert, sondern, dass ein Organismus sich als eine Art dissipative Struktur auf der Basis sich gegenseitig reproduzierenden Proteine ausfällt. Der sich entwickelnde Gedanke ist, dass Proteine Proteine hervorbringen (mit jeweils recht kurzfristiger Lebensdauer) und dass auf eben dieser Dynamik ein auflaufender, evoluierender reproduktiver Zusammenhang, quasi eine lernfähige dissipative Struktur, entstehen kann; eine Struktur (besser vielleicht Organisation), die viele kreiskausale Reproduktionszyklen ineinandergreifen, quasi ineinander verschachtelt, parallel laufen lässt; eine Struktur, die mit steigender Komplexität ambivalent, unsicherheitsabsortptionsbedürftig, entscheidungs- selektionsbedürftig (wenn man so will empfangsbereit für ein beobachtendes System) wird und entsprechend an Dispositionsmöglichkeiten interessiert ist; eine Struktur die ihre Ereignisse in gewissem Umafnge selektiv verknüpfen und schließlich in sich selbst beobachtende, unterscheidende, unsicherheitsabsorbierende Systeme aus Ereignissen absondern und etablieren kann (Stabilität auf Grundlage von Veränderungen). In den achtziger Jahren des letzten Jahrhundert wurden dann dem entsprechend Theorien, nicht nur selbstreferenzieller, sondern gar selbsterzeugender (und deswegen dann selbstreferenzieller) Systeme entwickelt (maßgebend im BCL und in Deutschland unter der Egide Niklas Luhmanns). Bei Luhmann heisst es dann (in diesem Fall auch für soziale Systeme): „Nur wenn ein System nicht einfach existiert, sondern sich aus eigenen Produkten ständig reproduzieren muss, kann es in genau dieser Hinsicht von der Umwelt abhängig sein. Wichtig ist aber, dass das System in ausreichendem Umfange über disponible Ursachen verfügt (eine Organisation zum Beispiel über weisungsgebundene Mitglieder), sodass es im Normalfalle seine eigene Reproduktion sicherstellen kann.“ (Luhmann, N (2000) Organisation und Entscheidung ,S.49)

Die Geschlossenheit kreiskausaler Zusammenhänge (z.B. auf der Ebene der Proteinreproduktion), wird hier als Grund für die "Offenheit" (Im Sinne von in dieser Hinsicht abhängig von, Sensibilität) für Veränderungen in der Umwelt herangeführt. Das System macht hinter sich die Tür zu und muss dann nur noch zusehen, dass ihm (als System im System) in ausreichendem Umfange disponible Ursachen zur Verfügung stehen, um das (die Differenzierung tragende) System über die Runden zu bringen; um - wenn man so will über interne System/Umwelt-Differenzierung - selbstreferenziell Unterscheids- und Entscheidungsplausibilitäten aufbauen zu können. Ein System wird dann nicht mehr nur als selbstreferenziell, sondern - noch eine Ebene tiefer - als selbsterzeugend vorgestellt: als ein System, dass in der schwirrenden Dynamik dieser eigenen reproduktiven Operationen disponible Ursachen über sich selbst nutzen kann, um sich selbst zu kontrollieren.

Semantisch wird hier sozusagen der Sack zugemacht, indem Geschlossenheit/Offenheit (Sensibilität für) und Varianz/Invarianz (dissipative Struktur als) als zusammen denkbar vorgestellt werden. Offenheit durch Geschlossenheit, Invarianz durch Varianz. Wenn man so will bekommt die Unterscheidung aktiv/passiv  für solche Systeme dann eine neue Fundierung: Passivität ist imer aktive Passivität. Auch Leerstellen, Nichthandeln, Nichtverstehen usw. gewinnen strukturelle relevanz.

Die Frage nach der Selbstkontrollierbarkeit von Systemem, die auf der Grundlage ihrer basalen Selbstreferenz ihre eigenen Operationen unterscheiden und teilweise entscheiden können, wird hier zunächst die Frage: Was heisst hier: "in ausreichendem Umfange disponible Ursachen über sich selbst?"

In ausreichendem Umfange soll hier dann heissen - und darauf ist besonders Wert zu legen - einige, aber nicht alle Ursachen die zum bewirken bestimmter Wirkungen im System nötig sind. Abgesehen davon, das man in einem solipsistischen Ansatz stecken bleiben würde, wenn sich alle Ursachen durch ein System selbst geben würden, ist diese Begrenzung auf eine besondere Weise interessant. Die Differenz „einige aber nicht alle Ursachen“ determiniert erst mal nicht was, wohl aber dass selegiert werden muss. Und genau so nistet sich ein System in eine "selektionsbedürftige" Umwelt ein. Es gibt sich Form durch anschlussfähige, bzw. kontinuierbare Selektionen, die in ausreichendem Maße disponible Ursachen (quasi strukturelle Kopplungen) für eine (in der jeweiligen Nische) wahrscheinliche Fortsetzung binden können. Ein System evoluiert als sein eigenes Werk in der Welt; es gibt sich sozusagen Form durch anschlussfähige Selektionen in einer "selektionsbedürftigen", unsicherheitabsorptionsbedürftigen (Um-)Welt (So wie sich z.B. Bewusstseine in der Plasizität interagierender Gehirne einrichten).

Würde das System über alle Ursachen zum bewirken bestimmter Wirkungen im System verfügen, bekämen wir es also mit der bizarren Form des Solipsismus zu tun. Würde das System über keine Ursache zum bewirken bestimmter Wirkungen im System verfügen, wäre es sozusagen ein Roboter der Umwelt. Und erst dadurch, das das System nur über einige und nicht alle Ursachen verfügt, kann es in dieser Hinsicht frei sein. Es kann die eigene, im Hintergrund brummende, autopoietische Organisation teilweise kontingent, also auch anders möglich disponieren. Das System kann (ja muss, u.U. in sich selbst verstärkendem Maße) die eigenen Freiheitsspielräume (interne Ambivalenzen) dann durch systematische Entscheidungen, durch Beobachtungen begrenzen und so für den Aufbau eigener kontigenter Differenzierung nutzen, um diese dann wiederum funktional an der der Autopoiesis des Systems zu beteiligen (vgl. Glasersfeld, E. v. (1985). Konstruktion der Wirklichkeit und des Begriffs der Objektivität. In H. Gumin & H. Meier (Eds.), Einführung in den Konstruktivismus (pp. 9-39)).

Bei Luhmann heisst es dann weiter: „Es kann daher infolge Evolution (oder auf später mit Hilfe von Planung) ein Komplex von produktiven Ursachen zusammenkommen und wenn einmal zusammengekommen, in der Lage sein geeignete Umweltursachen [und wenn man so will auch Systemursachen] hinzuzuassoziieren.“ (Luhmann, N. (1987). Soziale Systeme - Grundriss einer allgemeinen Theorie, S.40)

Erst durch die Möglichkeit der kontingenten Auswahl aus Freiheitsspielräumen kann ein autopoietisches System sich schließlich durch die selbstkalkulierte Variation von Systemereignissen an seiner Umwelt orientieren. Nur die auf dieser Basis in Gang gebrachte, sozusagen durch diese Orientierungsfunktion motivierte, (Re-)Produktion ambivalenter, also entscheidungsbedürftiger Ereignisse durch entscheidungsbedürftige Ereignisse stellt Systemkomplexität für Beobachtungen zur Verfügung. (vgl.Luhmann, N. (1999) Die Gesellschaft der Gesellschaft, S.114)

Zum einen kann man mit Luhmann (bzw. mit einer Semantik mit dem Reflexionswert Veränderung) beobachten, das ein System, um überhaupt zu Stande kommen zu können Komplexität voraussetzt, in der es als selektive Komplexität Platz greifen und sich im weiteren re-produzieren kann. Zum anderen kann man so beobachten, dass Systeme eine System/Umwelt-Differenz in ihren eigenen Operationen zur Bildung von Subsystemen nutzen. Autopoietische Systeme haben die Tendenz sich nach innen auszudifferenzieren und sind so in der Lage Vergleichs-, bzw. Informations(v)erarbeitungsprozesse in sich aufzubauen.(vgl. Luhmann, N. (1987) Soziale Systeme - Grundriss einer allgemeinen Theorie, S.41)

Man kann es sich so vorstellen, dass ein System in den Operationen seiner Reproduktion eine eigene Komplexität schafft, die wiederum eine Möglichkeit für weitere systeminterne Selektivität und damit Systembildung im System bietet. Luhmann spricht hier schlicht von Systemdifferenzierung. (Beim Universum muss man eben die erste Differenz voraussetzen. Auf der dadurch unmarkierten Seite hat sich dann wohl Gott versteckt☺).

Offensichtlich scheint, dass alle komplexen und evoluierenden Systeme von einer selektiven Verknüpfung ihrer Ereignisse (oder wenn man noch so will: Elemente) getragen werden. Dazu abschliessend noch ein Wortlaut Luhmanns (der, das sei ebenfalss abschliessend bemerkt, ohne eine semantische Verschiebung des Reflexionswertes auf Veränderung, kommunikativ, so die Annahme hier, wohl nicht oder nur schwerlich nachvollziehbar wäre) : „Die Form der Komplexität (eines Systems) ist also, kurz gesagt, die Notwendigkeit des Durchhaltens einer nur selektiven Verknüpfung der Elemente, oder in anderen Worten: die selektive Organisation der Autopoiesis des Systems.“ (Luhmann, N. (1999). Die Gesellschaft der Gesellschaft, S.138)