Donnerstag, 4. Juni 2009

Zum Thema Selbstorganisation in kognitiven Systemen

Der folgende Text ist auf die Nachfrage eines Kollegen entstanden, der mich bat ihm etwas inspirierendes zum Thema "Selbstorganisation in kognitiven Systemen" zu schreiben. Dieser Text ist etwas unbequem und grob geworden. Er ist aber zumindest insofern gelungen, als das er nicht den Eindruck vermittelt, als wäre schon eindeutlich klar was mit dem Thema gemeint sein kann. Für mich war der Text eine unerwartete Fingerübung, zu sehen: wohin komme ich, wenn ich versuche das Wesentliche zum Thema prägnant und (wenn auch schwer) nachvollziehbar niederzuschreiben? Danke Okan.
Die Grundidee ist -wenn man von der Selbstorganisation kognitiver Systeme spricht-, dass Formen, die ein System an sich selbst beobachtet, Formen sind, die sich aus der Beziehungen der Elemente des beobachtenden Systems ergeben. Der irritierende Agens in der Umwelt des Systems, also die einem Systeme externe Irritationsquelle, bestimmt nicht die beobachtete Form. Auch wenn wir in unserer Anschauung noch so geneigt sind Form und Farbe für externe Eigenschaften der beobachteten Objekte selbst zu halten. Das ist nicht der Fall. Dieser Punkt wird dann in der Theorie unter Stichworten wie z.B. "operationale Geschlossenheit" beschrieben.

Das sagt zunächst nichts weiter aus, als das die Dynamik eines Systems die Formen bestimmt, die dieses System beobachten kann. Das wirft zwei Fragen auf: Was ist das für eine Dynamik? und wieso entstehen überhaupt aus dieser Dynamik Formen?

Ein allgemeines Wieso-entstehen-Formen-Argument setzt an mit der Annahme, das ein System (welches auch immer) immer weniger Zustände annehmen kann, als die Umwelt in der sich ein System realisiert. Ganz allgemein gilt: Man kann sich sowas wie Resonanz in einem System nur vorstellen, wenn ein System nicht alle Veränderungen seiner Umwelt mitmacht (sonst würde es quasi seine Grenzen verlieren, es könnte nicht mehr von seiner Umwelt unterschieden werden, so der Hinweis in der Theorie). Resonanz ist in diesem Sinne ein Differenzphänomen, das man auf ein Komplexitätsgefälle zwischen System und Umwelt zurückführen kann. Wenn man sich das zwei, drei mal durch den Kopf gehen lässt, dann wird auch klar warum ein System im Verhältnis zu seiner Umwelt (!) immer Formen ausbilden kann und sogar muss. Dazu muss man annehmen, das ein beobachtendes System ein stark differenziertes System ist. Und Systemdifferenzierung heißt hier schlicht, das sich in einem System wiederum intern vielfache System/Umwelt-Differenzen ausbilden. Mit anderen Worten: wir haben eine System/Umwelt-Differenz, und wenn wir auf die Seite des Systems schauen, dann ist dieses System wiederum differenziert in Sub-System/Sub-Umwelt-Differenzen. Das System (das ja selbst aus einer Differenz von System und Umwelt Form gewinnt) zerschneidet sich sozusagen intern in ein bewegliches Verhältnis vielfacher System/Umwelt-Differenzen.

Wenn man nun das Konzept der Systemdifferenzierung in interne System/Umwelt-Differenzen und das Konzept eines Komplexitätsgefälles zwischen System/Umwelt-Differenzen zusammendenkt, dann wird es spannend. So kann kein Sub-System alle Veränderung in seiner Sub-Umwelt 1 zu 1 mit eigenen Veränderungen im System beantworten (man könnte sonst nicht von Resonanz sprechen). Wenn man so will, ist jede Veränderung eines Sub-Systems also schon eine Art Zusammenfassung von Veränderungen in der Sub-Umwelt des Sub-Systems, ist also eine Art Abstraktion auf Sub-Umwelt.

Entscheident ist nun, das das als allgemein unterstellte Komplexitätsgefälle zwischen System und Umwelt hier nicht(!) besagt, das man sich Systemdifferenzierung hierarchisch vorstellen soll. System/Umwelt-Grenzen werden nicht als räumliche, bzw. transitive Grenzen gedacht. Am Beispiel eines Gehirn wird schnell deutlich was gemeint ist. Neurone haben viele, mehr oder weniger lange und dementsprechend mehr oder weniger weit vernetzte, Dentriten und Axone. Im physiologischen System Gehirn heißt räumliche Nähe von Subsystemen nicht das diese operativ besonders viel mitiennder zu tun haben müssen. Systemdifferenzierung ist also eher als ein Prozess der nicht-transitiven Vernetzung von Subsystemen zu verstehen. Deshalb ist Systemdifferenzierung nicht in einem Raummodell zu begreifen. Ein System kann transitive Entscheidungsprämissen in einer nicht-transitiven Vernetzung partiell ausspielen, muss es aber nicht. Umgekehrt gilt das nicht.

Diese Formen von spezifischen Sub-System/Sub-Umwelt-Differenzen regulieren das Gesamtsystem dadurch, das jede einzelne Sub-System/Sub-Umwelt-Differenz ihr Verhältnis im Gesamtsystem folgendermaßen beeinflussen kann: (1) Das System kann sich selbst als variabel und seine Umwelt als konstant behandeln (Kognition). (2) Das System kann sich selbst als konstant und seine Umwelt als variabel behandeln (Volition). (3) Das System kann sich selbst und seine Umwelt als konstant behandeln (Determination). (4) Und das System kann sich selbst und seine Umwelt als variabel behandeln (Konfusion). Bei der Rede über die Selbstorganisation kognitiver Prozesse bezeichnet Kognition meist die Einheit dieser sozusagen brummenden Konstellation der komplexen Differenzen System/Umwelt und Identität/Differenz. Das greift aber zu kurz oder zu weit, je nachdem (siehe weiter unten).

Letztlich enstehen Formen in komplexen Systemen als "Kondensat" einer sich ständig verändernden Gesamtkonstellation von internen System/Umwelt-Differenzen. Und es stellt sich nun die Frage: Welcher grundlegende Mechanismus erzeugt die Dynamik, die Formen auf Formen bezieht und damit reflexiv werden lässt?

Die einfachste Antwort lautet Rekursivität. D.h. man stellt sich ein beobachtendes System nicht als linearen Ablauf von Ereignissen vor, der von Anfang zum Ende abrollt. Vielmehr stellt man sich ein beobachtendes System als ein kreiskausalen Zusammenhang von Elementen vor, der sich ständig reproduziert (Z.B. A produziert B, und B produziert dann A`, und A` produziert dann B` usw.. Solche Reproduktionszusammenhänge scheinen quasi beliebig ausweitbar und verschachtelbar). Die Elemente sind dabei flüchtig, jedoch der reproduktive Zusammenhang der Elemente erscheint als dynamisches System.

Hier wird deutlich, das die Beschreibung, die wir oben beinahe als Definition von Kognition verwendet haben, nämlich "... ist die Einheit der brummenden Differenzen System/Umwelt und Identität/Differenz", diese Beschreibung benötigen wir jetzt hier, um die basale rekursive Reproduktion des Systems einigermaßen funktionsgerecht und prägnant als Ganzheit bezeichnen zu können. Und weil wir einen Unterschied sehen zwischen Reproduktion und Kognition müssen wir weiter fragen mit welchen Unterscheidungen wir dem Phänomen Kognition genauer auf die Spur kommen.

Bemerkenswert ist zweierlei. Der rekursive reproduktive Zusammenhang bringt zum einen eine getaktete Instabilität in das System und ist damit der Boden, auf dem dann Formen im System kondensieren können; und zum anderen kann ein Redundanzbereich reproduktiver Prozesse entstehen in dem Operationen variiert werden können, ohne den reproduktiven Zusammenhang des Systems zu gefährden.

Zunächst schafft eine durch Reproduktionszyklen getaktete Instabilität das zeitliche Auflösungsvermögen des Systems und ermöglicht so das Registrieren von Veränderungen im System (vgl. Stichwort Selbstreferenz). Wenn ein System beispielsweise im "1-minuten-Takt" Änderungen vollzieht, wird es in seinen Prozessen kaum den Sekundentakt der Umwelt auflösen können. Ohne kontinuierliche Reproduktion des Systems, keine zeitliche Auflösung und damit keine Formen. Ob überdauernde oder flüchtige Formen, alle Formen driften quasi auf einer basalen Instabilität von parallel laufenden Differenzierungs- und damit verschachtelter Reproduktionsprozesse in einem System.

Neben der zyklischen Taktung hat der reproduktive Zusammenhang aber eine zweite interessante Potenz. Er kann die Länge seiner Sequenz (A,B,C-A´,B`C` usw) verändern und es können sich unterschiedliche Reproduktionszusammenhänge, sozusagen quer zur Sequenz verschränken. Innerhalb des reproduktiven Zusammenhanges kann so Redundanz in den Prozessen entstehen. In einem solchen Spektrum redundanter Reproduktionsprozesse kann ein System dann disponible Ursachen zum bewirken spezifischer Wirkungen im System finden. Das ist wichtig im Bezug auf die Reflexionskapazität eines Systems. Das nämlich in ausreichendem Umfang disponible Ursachen zur Verfügung stehen, mit denen das System seinen reproduktiven Zusammenhang in eigener Regie "zweckentfremden" kann. Mit der Verwendung redundanter Reproduktionsprozesse als disponible Ursachen für "eigensinnige" Ursache-Wirkungszusammenhänge im System, stellt das System sozusagen sicher, das es nicht durch Reflexion den Ast absägt auf dem es sitzt.

Ganz allgemein: Der Modus in dem Formen entstehen und reflexiv werden heißt: Reproduktion/Variation/Selektion im Regress. Es ist schließlich die ständige Reproduktion des Systems, die es einem System ermöglicht mit eigenen Veränderungen Umweltveränderungen zu parieren. Und mehr noch: ein beobachtendes System, wie z.B. ein Bewusstsein, ist ja nicht nur in der Lage zu parieren. Sondern es kann "eigennützig", bzw. "perspektivisch" Systemzustände selektiv variieren und lernt dabei mehr oder weniger vorteilhafte Bereitschaften auf zukünftige (Erwartungen) und an vergangene (Erinnerungen) Veränderungen vorzuhalten. Natürlich immer durch gegenwärtige(!) und ensprechend parallele Veränderungen.

Die Abkopplung und Differenzierung eines sich selbst reproduzierenden Systems von dem was dann als Systemumwelt auf der anderen Seite entsteht, erzeugt auf der Seite des Systems Freiheitsspielräume. Und in diesem Sinne bezeichnet das Thema "Selbstorganisation kognitiver Systeme" traditionell einen Prozess, bei dem zunächst durch die Selektivität der Operationen eine systeminterne Unbestimmtheit erzeugt wird, die dann durch systemeigene Strukturbildungen in Form gebracht wird. Das ist hier aber eine Beschreibung des reproduktiven Zusammenhanges selbst geworden, und wir fragen an dieser Stelle weiter nach spezifischeren Mechanisamen, mit dem ein System seine vielfachen und komplexen internen System/Umwelt-Differenzen zu kontrollieren vermag. An dieser Stelle wird es vielleicht wichtig danach zu Fragen wie über den reproduktiven Zusammenhang Abhängigkeiten und Freiheitsgrade gebunden werden.

(Vgl. Stichwörter in der Literatur von Humberto Maturana und Niklas Luhmann)