Mittwoch, 1. Januar 2014

Über Negationen, institutionalisierte Erwartungen und semantische Fallen in Organisationen - Eine Skizze

Das hier sollte eigentlich eine Skizze werden, die an einer ganz anderen Stelle landet. Aber wie fast immer, wenn ich mit den ersten Absätzen gestartet bin, merke ich, dass mein Flugplan allzu implizit gedacht ist und in gewisser Weise die reale explizite Strecke unterschätzt. Deshalb habe ich mir schon angewöhnt bei Skizzen wie dieser Einleitung und Titel im Nachhinein zu formulieren. Ich habe also nicht mein ursprüngliches Ziel erreicht. Das war: Meine nicht aufhören wollende Vorstellung irgendwie - wenigstens grob - zu fixieren, dass Grundrechte eine spezifische Funktion in Bezug auf Reflexion und langfristiger Vorausplanung von offenen Zukünften erfüllen. Eine Funktion also, die in gewisser Weise dem “ethischen Imperativ” Heinz von Foersters Ausdruck verleiht und die noch darauf wartet aus einem soziologischen und psychologischen Blickwinkel ausformuliert zu werden. Natürlich war mir klar, dass ich mit einer Skizze wie dieser das Problem nicht lösen, ja auch nicht mal angemessen ausformulieren kann. Aber ich dachte, wenn ich einfach anfange - und die widrigen Bedinungen meines Flugapparates (meiner Imagination) tapfer aushalte, dann kann ich auf dem Weg ein paar Landmarken vom Start bis zum Ziel setzen, die mir bei nächster Gelegenheit einen bequemeren Flug bescheren und mir dabei helfen mein Fluggerät zu verbessern. Nun bin ich zwar nicht am geplanten Ziel angekommen und einen direkten Weg auf Luftlinie habe ich auch nicht gefunden. Aber dafür konnte ich ein paar unerwartete Sehenswürdigkeiten finden, die mir zumindest die Aussicht nicht genommen haben eines Tages mein Ziel zu erreichen. Ein paar Landmarken konnte ich schon setzen - denke ich - und die Insuffizienz meines Fluggerätes konnte ich, zumindest in Bezug auf die geflogene Strecke, auch ausmachen.

Diese Skizze besteht also nicht aus elegant ineinander übergehenden und einfach zu überfliegenden Textpassagen, sondern sie ist - wie eigentlich alles hier auf diesem Blog - zu verstehen als eine Flugübung, die entscheidende Teile implizit lässt und dem geneignten Leser (aber erstmal mir) abfordert einen eigenen roten Faden zu finden.


I.

Es ist nicht so, dass wir einfach an einer “positiv gegebenen Erfahrungswirklichkeit” kleben. Unser Bewusstsein erzeugt Ambiguitäten. Das kann jeder schnell an sich selbst beobachten, wenn er beispielsweise nur einmal in den Himmel oder an eine Raufasertapete schaut. Was wir dort sehen sind nicht einfach nur Wolken oder Raufaserstrukturen. Mehr oder weniger schnell sehen wir dort Gestalten und Formen die sich sozusagen über unsere positiv gegebene Erlebenswirklickeit legen können. Das erfordert eine simultane Präsenz von mindestens zwei Ebenen. Auf unsere Wahrnehmung können wir sozusagen verschiedene Innen/Aussen-Formen beobachten. Auf eine Weise ist unsere Wahrnhmung möglichkeitsreicher als die Innen/Aussen-Formen, die wir in einem Moment dort hineinsehen können. Wir können im nächsten Moment andere Innen/Aussen-Formen auf unsere Wahrnhemung beobachten, aber, das steht fest, nicht alle auf einmal.
Bewusstsein kann sich offenschtlich von einer “positiv gegebenen Erlebniswirklichkeit” lösen und durch verschieden ansetzbare Negationen (Dies, aber nicht das) seine Position wechseln. Desweiteren sind Negationen in dem Sinne Reflexiv, als das sie auf sich selbst angewendet werden können. Negationen können negiert werden, um Positionen zu wechseln oder zum Ausgangspunkt zurückzukehren (Doch wieder dies und nicht das).
Mit dem Lösen von einem Erleben, das nur positiv an seinen Wahrnhemungen klebt beginnt eine Geschichte selektiver, immer auch anders möglicher Selbstfestlegungen. Erst dadurch ergibt sich sozusagen ein Kohärenzproblem.

“In einer simpel positiv gegebenen Erfahrungswirklichkeit verstünde sich die Kohärenz des Vorhandenen aus der Sukzession des Erlebens von selbst. Erst mit der Einführung von verschieden ansetzbaren Negationen wird Kohärenz problematisch. Kohärenzprobleme sind somit Folgeprobleme des Gebrauchs von Negationen.” (Luhmann, N. (1975) Über die Funktion der Negation in sinnkonstituierenden Systemen, in: Luhmann, N. (2005) Soziologische Aufklärung, Band 3, S. 45)

Mit diesem Kohärenzproblem, bzw. den erforderlichen Reflexionen und Selbstfestlegungen kommt eine Form von Risiko in die Welt, die nicht sich selbst überlassen werden kann. In einer Dauerreflexion im Sinne von Moment zu Moment sich verschiebender Negationen würde jede Handlungsfähigkeit verloren gehen. Wenn alles sich kontinuierlich ändert, gibt es keinen Anhaltspunkt für sinnvolles Handeln: Selbstfestlegungen ermöchlichen Handlungsfähigkeit. Andererseits: In einer Dauerselbstfestlegung im Sinne fest strukturierter Negationen (Position) ginge wiederum jede Anpassungsfähigkeit verloren.

Kohärenzprobleme, bzw. Reflexion und Selbstfestlegung “müssen daher durch Vorschriften über den Gebrauch von Negationen geregelt werden.” (ebd.)

Denkt man über diesen Sachverhalt bezogen auf ein einzelnes erlebendes Bewusstsein nach, dann kann deutlich werden, dass die Negationsmöglichkeiten, bzw. die Möglichkeiten den Gebrauch von Negationen zu regeln, sehr stark begrenzt bleiben.
Gehen wir weiter davon aus, dass unsere Wahrnehmung weit möglichkeitsreicher, bzw. komplexer ist, als das was wir durch Kombinantionen von Negationen darin bewusst als Position fixieren können, dann zeigt sich in dem Maße der Komplexitätsunterlegenheit der fixierenden Aufmerksamkeit die Vielfalt der Möglichkeit Negationen zu Kombinieren, also Positionen einzunehmen.

Egal in wieviel Hinsichten folgendes Gedankenspiel theoretisch natürlich widersinnig und grobkörnig ist; Nur zur Veranschaulichung: Stellen wir uns einen einzelnen (einsamen und erfahrungsleeren) Menschen auf einem Planeten vor, mit all seinen kognitiven Kapazitäten (Negations/Positions-Möglichkeiten), die wir gemeinhin von ihm erwarten. Welche Möglichkeiten hätte er seine Reflexion in Selbstfestlegungen und seine Selbstfestlegungen in Reflexion zu überführen, also seine Negationen zu regulieren? Was würde ihn daran hindern in einer Dauerreflexion quasi durchzudrehen oder andererseits völlig anpassungsunfähig in der erstbesten Selbstfestlegung stecken zu bleiben?
Eine Antwort könnte sein: Seine elementaren Bedürfnisse, z.B. die Nahrungsaufnahme, könnten ihn zu - sei es erstmal beliebigen - Selbstfestlegungen zwingen, um überhaupt handeln zu können. Er weiss nicht was er essen kann und was nicht, entscheidet sich aber dann für dies und nicht das (unterbricht die Reflexion) und kann aus den Konsequenzen (Bauchschmerzen oder wohlfühlende Sättigung) lernen. Wie experimentierfreudig wird er sein? wie unvoreingenommen wird er bleiben? Er kann zumindest aus der Interaktion mit Dingen in bestimmter Weise seine Negationen/Positionen regulieren, was auch immer er alleine daraus macht.

Es sei jedem selbst überlassen dieses Gedankenexperiment eines singulären Bewusstseins weiterzuspinnen und zu überlegen welche Erkenntnisse unter solchen Umständen eine Interaktionsgeschichte wahrscheinlich werden lässt. Aber was deutlich werden kann: Die Möglichkeiten des einsamen Bewusstseins sein eigenes Erleben zu negieren, die stossen schnell auf Schwierigkeiten und sind prinzipiell stark begrenzt. Die Möglichkeit die Mannigfaltigkeit verschiedener Formen auf “dies und nicht das” zu reduzieren und differenziert zu variieren scheint aussichtslos klein.
Andererseits deutet sich auch an, viele Menschen vorausgesetzt, dass und wie soetwas wie Kultur entstehen kann. Nämlich als eine gemeinsame Herangehensweise Negationen/Positionen zu regulieren, die sich von Moment zu Moment selbst zum Ausgangspunkt nehmen können/müssen, um entweder mit Selbstfestlegung oder Reflexion weiterzumachen.

“Eigene Bewußtseinszustände sind […] nicht negierbar. Zumindest gilt es als Normalitätsbedingung menschlichen Welterlebens, daß man nicht in Zweifel zieht, daß man erlebt, was man erlebt. Man hat deshalb nicht die Möglichkeit, die eigenen Erwartungen, Erlebnisse, Intentionen, Werte zu negieren und beizubehalten. Man kann sich selbst kein falsches (also auch kein wahres!) Erleben zuschreiben - sondern nur anderen. Nur in bezug auf das Erleben anderer kann man Dauernegationen durchhalten, und in bezug auf das eigene Erleben allenfalls punktuell mit Hilfe des Kunstgriffs, sich selbst zu einem falsch erlebenden Anderen zu machen. Der Einzelne kann zwar lernen, aber Aufklärung ist eine Operation, die man am [jeweils] anderen durchführt.
Erst wenn es zur interaktiven Kommunikation kommt, muß man damit rechnen, daß erlebter Sinn, obwohl er erlebt wird, und faktische Motive, obwohl sie als Handlungsgrundlage dienen, dauerhaft negiert werden, und zwar am jeweils anderen. "Fehler" des anderen kann man beobachten und feststellen; aber weder muß man, noch kann man sie unmittelbar ändern. Statt dessen hat man hier die Möglichkeit, den oben analysierten Negationsmechanismus zu benutzen, nämlich dem anderen ein falsches Bewußtsein zu unterstellen. Die automatische Synchronisation von Negation und Änderung, die für das individuelle Erleben gilt, ist auf soziale Interaktionssysteme nicht übertragbar. Vielmehr müssen, gleichsam als Ersatz dafür, emergente Strukturen entwickelt werden, die Dauernegationen wie Zuschreibung falschen Erlebens oder falscher Motive im System tragbar machen. Enttäuschungen werden dann nicht mehr allein durch Erwartungsänderungen auf gleicher Ebene der Konkretion abgefangen, sondern auch in symbolischen Generalisierungen "aufgehoben". Erst in sozialen Systemen werden dann Negationsleistungen so steigerungsfähig und stabilisierbar, daß eine neue Ebene der Evolution möglich wird, die sich sinnhaft-kultureller Generalisierungen zur Steuerung selektiv-adaptiver Prozesse bedient. “ (ebd., S. 46)


Dass wir durch Kommunikation nun quasi “den/die anderen” in unser Erleben mit einschalten können und unser einzelnes Bewusstsein mit faszinierenden Möglichkeiten (Positionen/Negationen) inspirieren können, dass wir dadurch Kommunikationssysteme gewinnen, die wir tragen und die auf uns zurückwirken in einer Weise, dass wir unsere Möglichkeiten von Reflexionen und Selbstfestlegungen erweitern und regulieren können, die ein einzelner nie erreichen kann, das entlastet uns allerdings nicht von dem Dauerproblem der Frage: Tun wir das richtige, oder nicht? Ist uns unsere Art zu Reflektieren und uns selbst festzulegen auf Dauer nützlich ist oder nicht? Das Gegenteil scheint der Fall. Neben der Ebene des individuellen Erlebens auf der wir unsere Muster der Regelung von Reflexion und Selbstfestlegung unmittelbar ändern können tritt eine Ebene “sinnhaft-kultureller Generalisierungen zur Steuerung selektiv-adaptiver Prozesse” für die das nicht gilt (Jedes Bewusstsein hat nur direkten Zugriff auf sein eigenes und kann nicht im selben Modus auf andere zugreifen). Die Folgen unserer Reflexionen und Selbstfestlegungen, inspiriert durch eine Ebene “sinnhaft-kultureller Generalisierungen zur Steuerung selektiv-adaptiver Prozesse” , die Folgen unserer Erkenntnis- und unserer Handlungsfähigkeit werden gewaltiger. Immer mehr und folgenreicheres wird entscheidbar und muss entschieden werden. Damit steigt das Risiko und gleichzeitig verringern sich die Kontrollmöglichkeiten des einzelnen Bewusstsein. Der Nutzen ist hoch, aber mit ihm steigen die bewusstseinsmäßigen Anforderungen (Zumutungen) an (duch) Reflexion und Selbstfestlegungen in Bezug auf Kommunikation. In differenzierten Sozialstrukturen müssen Positionen durchgehalten werden, trotz verschiedener Perspektiven. Dazu müssen sich Mechanismen etablieren, die sozusagen die Funktion von Negationssperren erbringen. Um die Reflexions- und Selbstfestlegungsmöglichkeiten, quasi die Möglichkeiten von Aufklärung auszuschöpfen, die die Ebene “sinnhaft-kultureller Generalisierungen zur Steuerung selektiv-adaptiver Prozesse” mit sich bringen kann bedarf es also Mechanismen, die nicht hinterfragt werden, die nicht negiert werden; Sei es weil sie nicht verstanden werden, sei es weil sie zu selbstverständlich sind, sei es weil sie durch moralische Restiktionen oder weil sie einfach für den Moment zu absurd für explizite Negation erscheinen. Kontrolle, Steuerung, Regelung braucht einen (mindestens für den Moment) festen Hebel. Es braucht das Standbein, um einen Schritt zu machen.

“Die Negierbarkeit des anderen setzt … eine gemeinsame Vorstellung von Möglichkeiten, also eine modale Generalisierung der Interaktion voraus. Schon deshalb - ganz abgesehen von allen Wertproblemen und allem Regelungsbedarf - erfordert soziale Interaktion eine Steuerungsebene, auf der keine Negation verfügbar ist. Diese Ebene kann aus Selbstverständlichkeiten bestehen, deren Gegenteil zu absurd ist für ausdrückliche Negation. Sie kann durch moralische Negationssperren gestützt werden. Sie kann [aber] auch, [...] durch temporale Modalisierung, nämlich durch Verlagerung in eine relativ feme Vergangenheit oder eine relativ feme Zukunft der Negation entzogen werden. ” (ebd., S.47)

Solche Negationssperren kann man in vielerlei Form beobachten. Sie sind sozusagen Errungenschaften der Kommunikation, die differenzierte Geselschaftsstrukturen ermöglichen. Und wie alle grossen Errungenschaften der Gesellschaft sind sie nicht nur einseitig von Vorteil, sondern bergen im gleichen Umfange Risiken. Ihr Nutzen ist untrennbar mit Kosten verbunden. Reflexionsfähigkeit kostet Handlungsunfähigkeit, Handlungsfähigkeit kostet Reflexionsunfähigkeit. Man bezahlt strukturierte Kommunikation, differenzierte Ordnung mit entsprechend differenzierten blinden Flecken. Das beantwortet in gewisser Weise eine verzweifelte Frage von Sherlock Holmes: “Why can’t people just think?”. Die Antwort wäre hier: Because in the first place they have to act, just like you, Sherlock. Acting into Problems and Ambiguities to reassemble them into solutions wich enable to act into Problems and Ambuguities, And so on… Auf unserem Weg brauchen wir also sowohl Reflexionsstops, als auch Handlungsstops, oder wie eben angedeutet: Negationssperren.


II.

Für Kulturen kann man demnach die Frage stellen: Wie kann man sich solche Negationssperren vorstellen, Mechanismen, die Kommunikationen sozusagen die Ruhe geben Struktur aufzubauen ohne sie dabei vollends still zu legen? Wie sind die nicht zur Negation freigegebenen Selbstfestlegungen in unsere gesellschaftliche Lebenswelt eingebunden? Und mit welchen Konsequenzen und Problemen?

Um in die Nähe einer Antwort zu kommen und uns die Rolle von Erwartungen beim Aufbau kommunikativer Strukturen zu vergegenwärtigen sei hier kurz die Ausgangssituation der Kommunikation angedeutet: Zwei beobachtende Systeme bekommen es, aus irgendwelchen Gründen auch immer, miteinandern zu tun. Für jedes gilt: Es hat nur Zugang zu seinem eigenen Erleben. Kein System hat die Komplexität sich und das andere in sich zu simulieren, bzw. vorherzuberechnen.Was das jeweils andere von ihm beobachtet bleibt deshalb stets Reduktion. Deshalb gilt:

“Selbst wenn sie [die sich gegenseitig beobachtenden Systeme] strikt mechanisch operieren, müssen sie deshalb im Verhähnis zueinander Indeterminiertheit und Determinierbarkeit unterstellen. [...]. Mit dem Versuch, [das andere System] aus seiner Umwelt heraus zu beeinflussen, kann man Glück haben und Erfahrungen sammeln. [... Letztlich it es so:] Sie erzeugen durch ihr bloßes Unterstellen Realitätsgewißheit, weil dies Unterstellen zu einem Unterstellen des Unterstellens beim alter 'Ego führt". [...]. 
Die Unsicherheitsabsorption läuft über die Stabilisierung von Erwartungen, nicht über die Stabilisierung des Verhaltens selbst, was natürlich voraussetzt, daß das Verhalten nicht ohne Orientierung an Erwartungen gewählt wird. Erwartungen gewinnen mithin im Kontext von doppelter Kontingenz Strukturwert für den Aufbau emergenter Systeme und damit eine eigene Art von Realität (= Anschlußwert). Das gleiche gilt [...] für alle semantischen Reduktionen, mit denen die beteiligten Systme eine für ihre wechselseitige Beobachtung und Kommunikation ausreichende Transparenz erzeugen. [...]. Das System verliert die Offenheit für Beliebiges und gewinnt Sensibilität für Bestimmtes.” (Luhmann, N. (1984) Soziale Systeme, S. 156 ff)

Die Rolle von Erwartungen beim Aufbau gesellschaftlicher, also kommunikativer Strukturen soll damit angedeutet sein. Sie ist in ihrem Ausmaß garnicht zu überschätzen und deshalb ist dazu angehalten an anderer Stelle sich dieses Ausmaß angemessen weiter zu vergegenwärtigen.

Weiter können wir nun fragen: wie institutionaliseren sich Strukturen von Erwartungserwartungen zu den oben angedeuteten Negationssperren?
Dieser Antwort können wir uns wiederum nähern, indem wir den Begriff der Normen einführen. Normen führen ein Negationsverbot sehr direkt im Schilde und eignen sich deshalb gut einen prägnanten Zusammenhang zwischen Kommunikation, Erwartungen und Negationssperren darzustellen.

Normalerweise stehen wir in Kommunikation, in der Gesellschaft, unter Lernerwartungen. D.h. wird eine Erwartung enttäuscht, dann wird erwartet, dass die Erwartung der Faktenlage angepasst wird. Der Gegenbegriff zum Lernen ist die Norm. Entweder wir Lernen, also ändern unsere Erwartungen bei Enttäuschung, oder wir Normieren und behalten entsprechend unsere Erwartungen bei, auch bei kontrafaktischer Sachlage.

“Also wenn wir sehen, das etwas anders ist als erwartet wird korrigieren wir die Erwartung. Oder wir nehmen es als Ausnahmefall und warten auf weitere Informationen, ob sich das häuft oder nicht häuft und lernen dann. Aber Normen, das scheint ein Typ von Erwartungen zu sein, bei dem wir entschlossen sind nicht zu lernen, also kontrafakttisch zu erwarten. Wir bleiben bei einem bestimmten Normverständnis, selbst dann wenn wir ständig erleben, dass die Norm durchbrochen wird. Es gibt Grenzsituationen, wie etwa Parkverbote, die nie beachtet werden, und man schließlich sagt: das ist garkeine Norm mehr. Eine komplizierte rechtstheoretische Diskussion [zur noramtiven Kraft des Faktischen].” (Luhmann, N. (1991) Videovortrag: Gibt es noch unverzichtbare Normen in unserer Gesellschaft, ab min. 5:46, http://youtu.be/3mXwN1Svay4?t=5m46s)

Das klingt zunächst recht abstrakt, es wird aber greifbarer, wenn man sich ansieht wie solche Erwartungen in konkreten Situationen sozial eingebettet sind, z.B. in Organisationen:

“[...] beispielsweise: Wenn ich eine neue Sekretärin bekomme und ich erwarte sie ist blond und sie ist nicht blond, dann muss ich lernen, wenn ich dagegen erwarte, dass sie ein Diktat schreiben kann und sie kann es nicht, dann habe ich Anlass mich zu beschweren und bei der Norm zu bleiben. Und dieses wieder weiss mein Dekan und erwartet entsprechend. (07:56). So dass also die normative Struktur eingebettet ist in ein normativen erwarten normativen erwartens. (08:03). Das ist die Struktur, die dann dazuführt, dass die Normen sozial eingebettet sind, wiederum in normative Erwartungen normativen Erwartens.” (ebd.: http://youtu.be/3mXwN1Svay4?t=5m46s)

Man ahnt wie vielfältig, rigide aber ggf auch flexibel Negationssperren durch institutionaliserte Erwartungserwartungen in die Kommunikation (Gesellschaft) eingezogen sein können. Gleichwohl wird deutlich, das Normen ein Typus institutionalisierter Erwartungen sind, die nun vergleichsweise rigide Verwendung finden und für die es keine einfache Form der Bearbeitung gibt. Ihre Rigidität macht sie zu einem guten Beispiel hier, um so sehr prägnant darauf aufmerksam zu machen, dass die Frage wie wir mit unseren Erwartungen und Erwartungserwartungen umgehen generell - also auch jenseits von Normen - eine sehr entscheidende Frage in der Gesellschaft ist und das die Schlüsselfrage dazu ist wie wir in den jeweiligen Lebensbereichen mit der Unterscheidung zwischen kognitivem/normativem Erwartungsstil umgehen. Das Beispiel der Normen sei hier deswegen nur als eine Möglichkeit verstanden die Aufmerksamkeit auf den Zusammenhang von Erwartungen und Lernen, bzw kontrafaktischem Festhalten an Erwartungen zu lenken. Denn es gilt für Kommunikation generell:

Sobald Menschen kommunizieren werden Handlungen meherer Personen sinnhaft aufeinander bezogen und werden in ihrem Zusammenhang abgrenzbar von einer nichtdazugehörigen Umwelt. Es beginnt eine Geschichte von aufeinander bezogenen erwartungsgetragenen Selektionen, es differenzieren sich soziale Systeme aus. (vgl. Luhmann, N. (1975) Interaktion, Organisation, Gesellschaft. in: Soziologische Aufklärung, Band 2, S. 10)
Nun ist Gesellschaft definiert als: Alle kommunikativ füreinander erreichbaren Handlungen. (ebd., S. 12) Und schon mit diesen beiden Beschreibungen kann klar werden wie sich soziale Systeme in die Gesellschaft einziehen und wieder auflösen und wie dies abhängig von den Erwartungen und Erwartungserwartungen der beteiligten Menschen geschieht.

Solche sich in die Gesellschaft einziehenden Kommunikationssysteme (soziale Systeme) bauen ihre Existenz darauf, dass Kommunikation auf Kommunikation folgt und also entsprechend Anschlußfähigkeit gewährleistet ist. Es gilt zunächst: “Auf alles was man versteht oder missversteht kann man mit Annahme oder Ablehnung reagieren.” (vgl. Luhmann, N. (1993) Theorie der Gesellschaft, Autobahn-Uni, Kassete 7a, ab min. 07:10).

Die Form von sozialen Systemen, und auch die Form unserer Gesellschaft im Ganzen, ist also davon abhängig wie in diesem Sinne die Annahme und Ablehnung von Kommunikation, wie letztlich Erwartungen und Erwartungserwartungen der beteiligten Systeme verteilt sind.
Nun ist leicht vorstellbar, dass differenzierte Sozialordnungen darauf angewiesen sind, dass nicht jede Kommunikation gleichwahrscheinlich angenommen oder abgelehnt wird, ja das sie auf einen Überhang von Annahmen der Kommunikationen angewiesen sind. Und gleichzeitig ist festzustellen, dass bei starker Ausdifferenzierung, d.h. bei einer großen Bandbreite möglicher verschiedenartiger und voraussetzungsreicher Kommunikationen die Wahrscheinlichkeit einer Ablehnung an Wahrscheinlichkeit gewinnt. Komplexe, verteilte Koordinationen funktionieren dann nicht mehr so ohne weiteres spontan und aufgrund eines gemeinsamen Wissens (Erwartungen) darüber was in einer Situation angebracht ist und was nicht. Natürlich gibt es diesen Bezug auf ein gemeinsames Wissen immer auch noch. Und soweit Interaktion funktioniert, muss auch das Unterstellen einer Ebene der Gleichheit, des gleichen Wissens, gleicher Motive, komplementärer Erwartungen usw. funktionieren. Aber je elaborierter, bzw. voraussetzungsreicher, je differenzierter Kommunikationen zur Verfügung stehen, desto unwahrscheinlicher ist die Annahme und desto wahrscheinlicher ist die Ablehnung (bzw. desto notwendiger sind zuverlässige Mechanismen zur Ablehnung, zur Negation) im Bezug auf Kommunikationen in der Gesellschaft. (vgl. Kopp, C. (2006) Ethische Implikationen einer allgemeinen Theorie autopoietischer Systeme, S.39 f)

Die Anschlussfähigkeit von wechselseitigen Handlungen ergibt sich dann auf jeden Fall nicht mehr von selbst. Sie muss durch wechselseitige Erwartungserwartungen abgesichert sein, denn, wenn nicht gewährleistet ist, dass der eine die Selektion des anderen als Prämisse eigenen Handelns übernimmt, dann selegieren sich soziale Systeme auseinander, sie zerfallen sozusagen. Das wird wie gesagt zum Problem, wenn die Differenzierung der Systeme zunimmt, sie also voraussetzungsreich konstituiert sind und ein entsprechend geeignetes Reflexionspotenzial zwecks gewisser Nachvollziehbarkeit und Kontrolle der Konsequenzen anspruchsvoller wird. (vgl. ebd, S.38 f)

Eines ist sicher klar: In einer hochdifferenzierten Gesellschaft, wie der unseren ist der benötigte Überhang von Annahmen nicht mehr nur durch Normen zu gewährleisten. Sie sind dafür zu regide, zu unflexibel, zu undifferenziert fundiert. Es bedarf dann zusätzlich Annahme-Katalysatoren, zuverlässige Mechanismen die eine wahrscheinliche Ablehnung in eine wahrscheinliche Annahme transformieren. And dieser Stelle beobachtet die systemtheoretische Soziologie sogenannte symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien. (vgl. Luhmann, N. (1974) Einführende Bemerkungen zu einer Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien)


III.

Ohne die Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien hier angemessen darzustellen (und der entsprechenden Bitte diese entscheidende Theorie an geeigneterer Stelle - z.B. hier - nachzuschlagen), möchte ich doch am Beispiel des Codes Wahrheit/Unwahrheit kurz andeuten, was diese Beobachtung von symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien mit unserem Thema zu tun haben könnte.

Die Theorie geht davon aus, dass die grundlegende Codierung Annahme/Ablehnung zu einem Spektrum funktional differenzierter Codes auseinandergezogen wird: Liebe/Nicht-Liebe , Macht/Nicht-Macht, Zahlung/Nicht-Zahlung, Wahrheit/Unwahrheit, usw. Und in jedem Bereich eines jeweiligen Codes gibt es sogenannte Programme, die die Zuordnung auf die eine oder andere Seite des Codes erleichtern.

Also: Der oben erwähnten grundlegenden Annahme/Ablehnung-Codierung aller Kommunikation werden funktionsspezifische Mediencodes zur Seite gestellt, um in sozialen Systemen differenzierter zwischen Annahme und Ablehnung entscheiden zu können - in unserem folgenden Beispiel Wahrheit/Unwahrheit. Die zu bearbeitende Frage ist dann: Unter welchen Bedingungen wird eine Kommunikation dem bevorzugten Wert (Präferenzwert) zugeordnet? - im Beispiel hier: Wahrheit. Welche Programme der Plausibilitätsprüfung gebieten eine Zuordnung zum einen, aber nicht zum anderen Wert des jeweiligen Codes?

Die (zu kurze, aber hier vorläufig genügen müssende) Anwort für das Funktionssystem, dass primär mit der Zuorndung zwischen Wahr/Unwahr beschäftigt ist - also Wissenschaft - ist: Die Programme der Plausubilitätsprüfung sind in der Wissenschaft allgemein anerkannte Kriterien methodischen Forschens. Konkret: finden Studien statt, die den Code Wahr/Unwahr bearbeiten, die nach den Gütekriterien Methodischen Forschens (Reliablilität, Validität, Objektivität) ein Ergebnis im Sinne einer Bestätigung einer Hypothese produzieren können, dann ist das Ergebnis dem Präferenzwert zuzuordnen, also anzuerkennen.

Bsp.: „Wenn methodisch korrekt geforscht worden ist, dann ist das Ergebnis anzuerkennen. Auch wenn es noch so überraschend, unglaubwürdig und vom Alltagsverständnis her unplausibel ist. Die Welt ist ein gekrümmter Raum. Wie? Das kann man sich nicht mal vorstellen. Und solche Vorstellungen werden dann aber wissenschaftlich validiert.“ (vgl. Luhmann, N. (1993) Theorie der Gesellschaft, Autobahn-Uni, Band 6b, ab 13:50 min)

Es geht hier also darum Abweichungen vom Üblichen, Abweichungen vom normal Verständlichen, plausibel zu machen. Überraschende und fantastische Konstrukte können angenommen werden (trotzdem sie dem zunächst Erwarteten widersprechen), wenn man Beweise führen kann, und wenn man sein eigenes Erleben nachvollziehbar mitteilen kann. (vgl. Kopp, C. (2006) Ethische Implikationen einer allgemeinen Theorie autopoietischer Systeme, S.44)

Funktional Äquivalent zu Normen - allerdings weitaus differenzierter und flexibler - werden in diesem Sinne Positionen und gleichzeitig damit Negationssperren eingezogen. Das entlastet durch eine gewisse “Peer-Review-Fundierung” davon alles auf einmal in Frage stellen zu müssen oder in einer Dauerreflexion stecken zu bleiben. Es erzeugt differenziert, nachvollziehbar und kontrolliert revidierbare Handlungsfähigkeit. Alles bleibt dezidiert hinterfragungsfähig, aber nicht gleichzeitig und nur unter bestimmten Bedingungen (nämlich den Kriterien der Programmierung des jeweiligen Codes).

Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien sind in gewisser Weise Mechanismen mit denen die Gesellschaft gewissen Funktionen eine besondere Plausibilität und damit strukturelle Durchsetzungsfähikeit verleiht, ohne das ihr Einsatz spezifische Zwecke dieser Funktionen bevorzugen würde (ausser die Plausibilisierung des Präferenzcodes selbst). Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien sind sozusagen auf eine offene Zukunft ausgelegt. Sie programmieren soziale Systeme gerade nicht so (und sind auch nicht dazu geeignet), dass eine feste Zukunft, ein zu Erreichendes Ziel in die Zukunft projeziert wird und an dieser Erwartung Operationen sortiert würden. Sie implizieren kein Ziel, keinen Zweck, sondern einen funktionsorientierten kontinuierlichen Prozess im Umgang mit Ungewissheit.

In diesem Sinne arbeiten Organisationen als eine Art konträres funktionales Äquivalent zu symbolisch generalisierten Kommunikationemedien. Zum einen sind sie ebenso Katalysatoren für vergleichsweise sehr unwahrscheinliche Strukturen:

“Mit Hilfe [von] Mitgliedschaftsregeln - etwa Autoritätsunterwerfung gegen Gehalt - wird es möglich, trotz frei gewählter, variabler Mitgliedschaft hochgradig künstliche Verhaltensweisen relativ dauerhaft zu reproduzieren. Man muß nur ein allgemeines Gleichgewicht von Attraktivität des Systems und Verhaltensanforderungen sicherstellen und wird unabhängig davon, ob für jede Einzelhandlung natürlich gewachsene Motive oder moralischer Konsens beschafft werden können.” (Luhmann, N. (1975) Interaktion, Organisation, Gesellschaft. in: Soziologische Aufklärung, Band 2, S.13f)

Zum anderen arbeiten sie mit der Erwartung einer festen, bzw. planbaren Zukunft im Sinne eines zu Erreichendes Zweckes, zu dem man die Mittel finden und entsprechend daran die Operationen des sozialen Systems zu Orientieren habe.

Beide, symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien und Organisationen domestizieren in gewisser Weise die natürlich gewachsenen Erwartungen der einzelnen Kommunikationsteilnehmer (oder machen sie wenigstes unabhängig von diesen) und entlasten diese bei der Errichtung differnzierter gesellschaftlicher Strukturen. Beide sind auf unterschiedlichen Ebenen dazu geeignet sehr strikt, aber trotzdem flexibel Negationssperren zu etablieren ohne diese “in Stein zu meißeln”.

In Organisationen (die natürlich tragendes Fundament aller Funktionssysteme sind) ist dieses “Alles bleibt dezidiert hinterfragungsfähig” nicht so selbstverständlich angelegt, wie in den gesellschaftlichen Funktionssystemen und ihren Codes und Programmen. Es wird hier nicht direkt eine Funktion, im Sinne ergebnisoffener Prozesse bearbeitet, die zunächst von spezifischen Zwecken abstrahiert, sondern es werden Entscheidungen programmiert, die gerade einem bestimmten Zweck dienen sollen. Der Zweck selbst bleibt auf eine besondere und strenge Weise vor Reflexion geschützt, indem ggf die Mitgliedschaft in einer Organisation entzogen werden kann. Dem Mathematiker, der beispielsweise einen mathematischen Beweis führen kann, dessen Konsequenzen nicht dem Zweck, der ihn anstellenden Organisation dient, dem kann zwar seine Mitgliedschaft in dieser Organisation gekündigt werden, aber die Bedeutung seiner Arbeit für das Funktionssystem Wissenschaft kann nicht ohne weiteres gekündigt werden.

Neben Normen und anderen differenzierten Mechanismen zur Justierung von Erwartungen bieten Organisationen mit ihrer formalen und informalen Seite, mit ihrer besonderen Zweck/Mittel-Orientierung und ihren Mitgliedsschaftsbedingungen besonders konkrete und durchschlagkräftige Möglichkeiten des Aufbaus von Negationssperren. Das kann wiederum in verschiedener Weise zu Problemen in Organisationen und ihrer Umwelt führen.


IV.

Nun, nach einer eher allgemeinen und langatmigen Skizze zu der Bedeutung von Erwartungen und gewissen "Meinungsverstärkern" in der Gesellschaft schließe ich diesen Beitrag nun mit einem relaitv konkreten Beispiel eines Problems mit Negationssperren, also mit bestimmten Erwartungen in Organisationen. Es handelt sich um ein Beispiel, das sich im weiteren Sinne auf die eben skizzierte “Herleitung” bezieht und hoffentlich - trotz seiner Konkretion - noch Platz für Generalisierungen im Nachhinein offen lässt.

Vorher komme ich aber nicht umhin, um diesen Text wenigstens für den geübten und geneigten Leser einigermaßen zusammenhängend wirken zu lassen, vorher noch ein paar Worte über die spezifischen Erwartungsstrukturen in Organisationen zu verlieren.

Für Organisationen gilt zunächst, ebenso wie für alle Kommunikationssysteme:

“Alle Systemprobleme lassen sich letztlich auf Probleme der Erwartungsstabilisierung zurückführen.” (Luhmann, N. (1999) Funktionen und Folgen formaler Organisation, S. 27)

Eine besondere Gruppe von Verhaltenserwartungen in Organisationen, für die unverbrüchliche Geltung beansprucht wird, sind die so genannten formalen Erwartungen. In dem Maße als solche Erwartungen ein soziales System bestimmen, wird es als organisiert bezeichnet.

Unter Formalität soll die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Systemstruktur verstanden werden, „die formal ist, weil sie die Identität des Systems gegenüber wechselnden Personen und Orientierungsinhalten sichert“ (ebd., S. 29), indem Sie die Erfüllung bestimmter Erwartungen (Regeln) fordert.

Formalität soll hier nicht als eine Eigenschaft des sozialen Systems gesehen werden, sondern als eine Qualität bestimmter Verhaltenserwartungen. Und Verhaltenserwartungen in Organisationen sind dann als formal zu bezeichnen, „wenn sie in einem sozialen System durch die Mitgliedschaftsregel gedeckt ist, d.h. wenn erkennbar Konsens darüber besteht, dass die Nichtanerkennung oder Nichterfüllung dieser Erwartung mit der Fortsetzen der Mitgliedschaft unvereinbar sind“ (ebd., S. 38).

Die soziologische Analyse ist sich natürlich bewusst, dass eine formale Struktur, nur Teilmoment einer Organisation ist. Die Sinnverbundenheit der Handlungen des Systems, die das System ausmacht und es gegen eine andersartige Umwelt Invariant hält kann nicht vollständig aus formalisierten Erwartungen bestehen, weil eine Vielzahl von möglichen Situationen entstehen kann, in der es neben den Erwartungen, die auf der Kenntnis allgemeiner Regeln beruhen auch solche geben kann, die sich auf die Kenntnis oder verantwortliche Entscheidungskraft individueller Personen beziehen. „Die Fülle orientierungsnotwendiger Erwartungen lässt sich nicht in einem System formalisieren.“ (ebd., S. 28).

Die Verwendung der Bezeichnung formal bringt also mit sich, dass auf der anderen Seite eine Informale Erwartungsstruktur beobachtet werden kann. Diese betrifft latente Rollen, Funktionen und Sinnbezüge, die dem Handelnden nicht unbedingt thematisch bewusst vor Augen stehen müssen. Eine große Zahl von betriebssoziologischen Untersuchungen bestätigt, dass sich in großen Arbeitsorganisationen neben den offiziellen Vorschriften eine andere Verhaltensordnung mit eigenen Normen und Kommunikationswegen, einer besonderen Logik und einem entsprechenden Argumentationsstil, mit eigenen Statusgesichtspunkten, einer eigenen Führungsstruktur und eigenen Sanktionen entwickelt.

“Sie ist vor allem gefühlsmäßig fundiert und auf die Persönlichkeitsbedürfnisse in der Arbeitssituation zugeschnitten. Sie verwandelt die Arbeit, die von der formalen Organisation als sachliche Leistung geplant ist, in ein geselliges Geschehen, das gemeinschaftlich bewertet wird, und greift dadurch modifizierend in die formale Planung ein“ (ebd., S.30).

Die Beziehungen zwischen formaler und informaler Organisation lassen sich weder in der Form zweier komplementärer Aspekte eines sozialen Systems noch als zwei sich im Negativbild gegenüberstehenden Systemen verstehen. Formale und Informale Strukturen können auf einen gemeinsamen Nenner zurückgeführt werden, der seine Fundierung in gewissen elementaren Ordnungsformen menschlichen Zusammenlebens hat.

„Die Fortsetzung des Zusammenlebens hängt davon ab, dass relativ feste wechselseitige Verhaltenserwartungen gebildet werden können und mit einer gewissen Verlässlichkeit erfüllt werden. Wenn jemand entschieden zu erkennen gibt, dass er die an ihn gerichtete Erwartung nicht beachten will, so ist man geneigt, entweder die eigenen Erwartungen zu ändern oder die Beziehung zu ihm nicht fortzusetzen. Laufende Enttäuschungen sind unerträglich. Darin liegt der Mechanismus der Verteilung nach Kongenialität oder Sympathie: Man gesellt sich denen zu, deren Erwartungen man anerkennen kann und die ihrerseits den an sie gerichteten Erwartungen nachkommen. [...] Solche Gruppen neigen über die Übereinstimmung in bestimmten Verhaltenerwartungen zur Normbildung, das heißt zur Ächtung derjenigen Beteiligten die den gelebten Normen die Anerkennung verweigern. Wenn kein weiteres Kriterium besteht kann eine solche Normeinhaltung, also die Mitanerkennung der Normen zugleich ein Mitgliedschaftskriterium sein, das Zugehörigkeit und Berechenbarkeit mitteilt. Dauerprobleme und Spannungen entstehen erst dann, wenn die Mitgliedschaft durch weitere und andere Kriterien nahe gelegt oder festgelegt werden. In Organisationen kann das z.B. in Kontexten geschehen in denen „eigentlich jeder Arbeitskollege die Normen über kollegiales Verhalten und über die angemessene Begrenzung des Arbeitspensums beachten sollte. In solchen Fällen setzt die Gruppe den Abweichenden unter Druck, um ihn zur Anpassung zu bringen“. (ebd., S. 33 f)

Solcherlei Spannungen kann man auf die Widersprüchlichkeit verschiedener Mitgliedschaftskriterien zurückführen. Zum einen in der Normanerkennung und der situationsmäßigen oder sonst extern zugeschriebenen Mitgliedschaft andererseits.

Diese Spannungen sind “für beide Teile unerfreulich. Dem Abweichenden bleibt die soziale Bestätigung seiner Meinung versagt, er wird gepeinigt und kann nur noch an seinem Trotz Befriedigung finden. Und die Gruppe sieht ihre Situationsdefinition gefährdet und ihre Normen in den Augen Außenstehender diskreditiert“. (ebd., S. 35).

In solchen konfliktgeladenen Situationen liegt es nahe die Mitgliedschaft als variabel zu gestalten und somit als solche ins Bewusstsein zu rufen, „ um sie mit der Anerkennung von Gruppenerwartungen korrelieren zu können“ (ebd., S. 35)

Die Funktion einer variablen Mitgliedschaft ist mit anderen Worten, dass die Organisation die Abwicklung systeminterner Handlungszusammenhänge an rein sachlichen Gesichtspunkten ausrichten kann, ohne dabei individuelle, persönliche Gründe der Rollenübernahme erneut prüfen zu müssen. Ungehorsamkeit gegenüber Regeln und Weisungen wirft direkt die Mitgliedschaftsfrage auf. Diese Störungen werden dann über die Mitgliedsrolle rückübersetzt in die Frage nach dem persönlichen Schicksal nach dem Austritt.

Der Schwerpunkt einer Mitgliedsrolle im kommunikativen Ausdrucksverhalten liegt also darin eine Bestätigung der formalen Erwartungen zum Inhalt zu haben. Jedes Mitglied setzt sich durch eine solche Selbstbeschreibung selbst den Rahmen für seine jeweilige Sonderrolle und damit für sein erwartbares Leistungsverhalten in der Organisation. Die Mitgliedschaftsrolle gibt sozusagen die Rahmenbedingungen für bestimmte Sonderrollen der einzelnen Mitglieder. Eine Kombination mit den jeweiligen Sonderrollen ist in der Mitgliedschaft also angelegt und vorgesehen. Sie führt in allen hier als formal definierten Situationen zu einer unlösbaren Verknüpfung. Die Organisation vereint mit dieser Charakteristik Lenkbarkeit und Elastizität. Kurz: Die Formalstruktur ermöglicht Lenkbarkeit, die Informalstruktur leistet Schützenhilfe wenn Kreativität gefragt ist, wenn in Fragen der Rollen-, bzw. Kompentenzkombinationen improvisiert werden soll.

Organisationen die genügend starke Anreize, insbesondere hohe Löhne, und das Erleichtern des Austritts ermöglichen, können mit der Formalisierung von Erwartungen sehr weit gehen, was, wie wir gleich am eben versprochenen Beispiel noch sehen werden.

Das Abdecken latenter Beziehungen (der Fähigkeit zu kreativer Improvisation) durch formale Strukturen ist der Preis, der für die Konsistenz der formalen Rolle bezahl wird und sie ist gleichzeitig die Bedingung ihrer Eignung als Interpretationshilfe und als selektives Erlebnisschema, als Mittel zur Entlastung von Komplexität für die Beteiligten.

Welche Risiken, welche Probleme in Organisationen liegen nun in der Formalisierung, die quasi als funktionales Äquivalent zu Normbildung in Gruppen beobachtet werden kann?

Ein Risiko besteht mit Sicherheit mit einem Problem mit Reflexionen in der Organisation umgehen zu können: Wenn Organisationen ihre Prozesse kontrollieren wollen, dann wird es vor allem wichtig, das die Entscheider sich wechselseitig und systematisch mit ihren Erwartungen konfrontieren und auseinandersetzen. Das Vertrauensmoment, das beim notwendigen Blick über die Grenzen des in der Organisation “legalen” hinaus erforderlich ist, um die Negation zu explizieren, ist hierbei nicht zu unterschätzen. Um kontinuierlich eine Position zu halten, die einen gewissen Überblick vermittelt, ist es nötig Negationen der formalen Position offen aussprechen, in die Kommunikation einführen zu können, ohne dabei gleich in den Verdacht zu geraten die ureigene Position der Organisation damit der Disposition aussetzen zu wollen. Es ist schlicht notwendig für eine reflektierte differenzierte Position, dass sie ihre Negationen weitgehend mit aufnehmen kann. Es sind aber - wie eben gezeigt - Spannungen unter den Mitgliedern zu erwarten, wenn die Widersprüchlichkeiten in einer Organisation expliziert gemacht werden. Derjenige der Widersprüchlichkeiten in die Kommunikation einführt, wird schnell als Abweichender betrachtet und die Gruppe neigt dann dazu ihre Situationsdefinition und ihre Normen in den Augen Aussenstehender diskreditiert zu sehen und neigt dazu entsprechend die Mitgliedschaft zu entziehen, oder einen Nachtwächterposten für den Abweichler zu finden.

Wie Organisationen sich in ihrem Erwartungserwartungen verfangen können - im versprochenen Beispiel nun konkret Banken und zwar in der Negation einer Differenz von Selbst- und Fremdbeschreibung -, das zeigt Dirk Baecker sehr deutlich, der sich in “Information und Risiko in der Marktwirtschaft”, bzw. “Womit handeln Banken?” ausgibig mit den Risikokalkülen der Wirtschaft und Banken aus einer soziologoschen Perspektive auseinandergesetzt hat.

In einem Interview sagt er: "Und unsere Überraschung, Luhmanns und meine Überraschung, war dann, dass die Banken mit denen wir dann sprachen, ich reiste von einer Bank in die nächste und führte eine ganze Reihe von Interviews, eigentlich eher peinlich berührt waren, dass ich sie nach dem Umgang mit Risiken fragte. Und die Antwort war stereotyp die: Wir handeln nicht mir Risiken, wir handeln mit Sicherheiten. Ich kam dann zurück zu Luhmann und wir beide wunderten uns darüber, denn es war sichbar, dass natürlich Risiken strukturiert wurden, dass ein Kreditnehmer eingeschätzt wurde im Hinblick auf seine Fähigeit den Kredit zurück zu zahlen. Die Sicherheit spielt dabei eine Rolle. Die Sicherheit ist aber nicht das womit die Bank handelt, sondern die Sicherheit ist das was es der Bank ermöglicht, den Kredit mit dem sie handelt auf seine Zurückzahlungswahrschenlichkeit hin einzuschätzen.
Also fragten wir uns: Wie kommt das, dass die Banken einerseits mit Risiken handeln, aber andererseits von Sicherheiten sprechen. Und wir kamen dann darauf, dass es da eine selbstgestellte semantische Falle gibt: Banken tun nach aussen so als könnten sie für die Einlagen der Gelder, der Kunden bei der Bank, mit eigener Sicherheit sozusagen gewährleisten, dass die auch zurückgezahlt werden können. Sonst wäre im 19. Jhrd. niemand auf die Idee gekommen irgendeiner Bank, die irgendwelche Safes hat Unmengen von Geld zur Verfügung zu stellen. Deswegen diese schweren Fassaden der Banken, diese klassizistischen und neoklassizistischen Fassaden, deswegen diese Kravatten der Bänker, deswegen der Bowlerhat, deswegen die Streifenanzüge, deswegen dieses ganze solide Gehabe. Das Londoner Finanzwesen das strahlt sozusagen Sicherheit aus (4:21) … Ein Spiel, ein Spaß mit Sicherheit, obwohl dahinter nichts anderes steht als das unsicherste Geschäft, dass es überhaupt gibt, nämlich die Frage: Was kann man heute mit Geld derart machen, dass es morgen noch irgendetwas wert ist? Und wir sagten dann, das könnte u.U. eine nicht nur semantische Falle sein, in die der Kunde eingewickelt wird, das könnte auch eine strukturelle Falle sein, weil dieser Zwang Sicherheit zu signalisieren, der Bank dann intern es schwerer macht das Ausmaß der Risiken auf die sie sich tatsächlich einlässt offen, unter den beteiligten Bänkern, zu besprechen. Sich selbst zuzugeben. (05:07) (Die Bank wird fromm) und die Bank verliert den Blick für die eigene Intelligenz. Und das war so ein allgemeines Theorem, dem wir damals in Bielefeld folgten, dass die Praxis intelligenter ist als die Art und Weise wie sie über sich selbst spricht. D.h. die Leute reden dümmer, als sie handeln. Und das stellten wir auch bei Banken fest. Aus: Baecker, D. (2009) Der blinde Fleck in der Intelligenz der Banken (3/5), ab min. 2:41 - 5:27: http://www.youtube.com/watch?v=CswGevqM83s&feature=youtu.be&t=2m41s


So ist es an vielen Entscheidungspunkten (insbesondere in kleinen Entscheidergruppen) in Organisationen wichtig sich der Bedeutung und vor allem der Konsequenzen expliziter und impliziter Erwartungen bewusst zu werden, um nicht den Blick für das Ganze zu verlieren, sich gar in den eigenen Selbstbeschreibungen zu verheddern.

Denn: Empirische Studien über das Entscheidungsverhalten des Führungspersonals oder bei der Vorbereitung von Policy-Entscheidungen bestätigen:

“Selbst vorhandene Informationen, Statistiken, Geschäftsberichte werden [für Entscheidungen] kaum herangezogen. Zumeist wird ohne Lektüre auf Grund interaktioneller Kontakte entschieden. Dies scheint die beste Art des Umgangs mit vieldeutigen Begriffen und Situationsbeschreibungen oder mit schlecht strukturierten Problemstellungen zu sein. Man gewinnt aus diesen Kontakten den Eindruck, ausreichend (oder jedenfalls: ebensogut wie die anderen) informiert zu sein und mißtraut im übrigen der "mikropolitischen" Manipulation von Daten, die durch Weglassen und Betonen frisiert werden, womit der, der sie zusammenstellt, seine eigenen Ziele oder seine eigenen Ansichten fördert. “ (Luhmann, N. (1996) Entscheidungen in der Informationsgesellschaft, S. 4)

Das würde natürlich erklären, dass sich Entscheider eher an formalen, bzw. normativen Gesichtspunkten von Kommunikation orientieren. Aber das Risiko semantischer Fallen, in die man durch zu stark auf formale Anforderungen der Kommunikation in Organisationen zurechtgestutzes Reflexionsverhalten tappen kann, würde, trotz der angedeuteten Gründe für dieses Verhalten, für ein gewisses sachliches Negationsrecht, Widerspruchs-, bzw. Widerstandsrecht dagegen sprechen.

Wer an dieser Stelle noch nicht genug hat, dem sei zum Ausklang der letztgenannte Aufsatz Niklas Luhmanns zur Abkühlung empfohlen.